Meine Oma sagt …

Im Januar 2003 war mal wieder großes Geschwister_mit_Anhang-Treffen bei meiner Oma angesagt. Wir saßen abends alle im Esszimmer um den großen Tisch und lachten wie immer gemeinsam über alles mögliche. Besuche bei meiner Oma waren immer etwas besonderes, da dort alle Geschwister nebst Anhang zusammen kamen, was sonst selten bis nie der Fall war.

Ein paar Monate zuvor hatte ich mir ein Zungenpiercing stechen lassen. Die angeekelten Blicke meiner großen Geschwister, das hilflose Schmunzeln meines Vaters und die Schellte meiner Mutter hatte ich inzwischen überstanden. Eigentlich war eh allen klar, dass die kleine Pia für solche Aktionen keine Erlaubnis mehr brauchte und darum auch sicher nicht nach einer fragen würde.

Natürlich habe ich trotzdem alles dran gesetzt, meine „Tat“ vor meiner Oma zu verheimlichen, denn für eine 83jährige Frau ist man auch mit 22 noch nicht erwachsen oder in der Lage, solche Entscheidungen selber zu treffen.

So saßen wir also, wie erwähnt, im Esszimmer und meine Oma erzählte von Ihrer Haushaltshilfe:

„Die Enkelin von der Frau Schmidt ist vor ein paar Wochen auch von zu Hause ausgezogen. Das Kind ist nun auch schon 18 Jahre alt und da sollte man ja meinen, die seien aus dem Gröbsten raus.“

Meine Oma legt eine bedächtige Pause ein, um uns alle auf das dramatische Finale ihrer Erzählung einzustimmen. Dann fährt sie fort:

“ … und dann kam das Gör‘ doch glatt mit so einem Metallstab in der Zunge nach Hause! ‚Heute sind sie doch alle gepörst‘, hat sie gesagt, das Luder!“

Mein Bruder und meine Schwester grinsten seeehr breit, mein Vater verzog das Gesicht und ich starrte knallrot auf meine Schuhe. Es sagte jedoch niemand einen Ton und so entstand ein viel peinlicheres, betretenes Schweigen, welches Herr H. mit einem schwungvollen „Wirklich? Unglaublich!“ unterbracht. Meine Oma honorierte seine Zustimmung natürlich mit glänzenden Augen und einem zufriedenen Lächeln. Das brachte ihm glatte 100 Pluspunkte auf der schwierigen Enkelkinder-Anhang-Topliste ein.

Bei unserem nächsten Besuch war Herr H. leider nicht mit von der Partie. Es sollte der letzte Besuch bei unserer Oma sein, bevor sie starb.

Wieder einmal saßen wir alle gemeinsam um den Esszimmertisch und frühstückten ausgiebig. So ein Frühstück zog sich gut und gerne ein paar Stunden und die Stimmung war stets sehr ausgelassen. Meine Schwester ärgerte mich mit fiesen Sprüchen, ich foppte zurück – das übliche Gerangel unter erwachsenen Geschwistern. Am Kopfende saß meine Oma und überwachte das ganze, was ihr unter uns Enkeln den Spitznamen „Queen Mum“ eingebracht hatte. Zwischen ihr und mir saß meine Schwester, die an diesem Tag überschwänglich gut gelaunt war und mir wirklich einen Spruch nach dem anderen einschenkte. Nach einiger Zeit und einem weiteren fiesen Spruch ihrerseits streckte ich ihr schwungvoll und so richtig herzhaft die Zunge raus – soweit es nur ging.

Ebenso schnell hatte ich die Zunge auch wieder eingefahren, presste die Lippen zusammen und starrte wie ein geschlagener Hund auf meinen Teller – erwähnte ich, dass ich inzwischen 23 Lenze zählte?

Meine Oma hob sehr, sehr langsam eine Augenbraue nach der anderen, hob den Kopf an, schob das Kinn ein wenig nach vorne und forderte mit ihrem Blick eine augenblickliche und unter allen Umständen möglichst schuldbewusste Stellungnahme.

„Was war das?“

Ich schaute sie von unten nach oben mit großen Hundeaugen an. Vielleicht habe ich sogar gewinselt, dass weiß ich aber nicht mehr genau. Der Blick meiner Oma war hart und strafend und ich wurde immer kleiner und kleiner.

Dann plötzlich verzog sich ihr Mund zu einem sehr breiten Grinsen und sie lachte laut auf:

Du Luderchen!

Und seit diesem Tag bin ich ganz offiziell, von Queen Mum persönlich, in den Stand eines Luderchens erhoben worden.
Sie sehen also, ich kann gar kein Luder sein – oder wollen Sie meiner Oma etwa widersprechen???

Dies ist übrigens meine und vor allem Herr H.s absolute Lieblingsgeschichte. Ich wunderte mich gerade, dass ich sie Ihnen noch nicht erzählt habe …

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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10 Gedanken zu „Meine Oma sagt …

  1. Ja, durch solche Erlebnisse soll ja der ein oder andere schon dazu- und umgelernt haben.

    Ist das Piercing so eine kleine Hantel oder gibt es da überhaupt verschiedene?

  2. Jaja, Omas sind schon ein lustiges Völkchen. Da die ganze Familie demnächst bei der meinigen übernachten wird, fragte sie meine Mutter, ob man mich mit meiner Freundin in einem Zimmer schlafen lassen könnte. Wohlgemerkt, wir zählen 30 Lenze :grin:
    Zur Verteidigung muss man sagen, dass meine Oma zu einer Zeit aufwuchs, in dem es den Kuppelei-Paragraphen noch gab.

  3. Tja, Nr. 7/eco. Das geht halt nicht, dass ihr die erstbeste Gelegenheit (Familientreffen) zum vorehelichen Sex mißbraucht. Da muss schon aufgepasst werden.
    :twisted:

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