Die wollen übers Ende der Welt

Eine sarkastische Reflexion eines ehemaligen Tokio Hotel Verabscheuers.

Ein Jahr wird es wohl her sein, da sah ich im Fernsehen zum ersten Mal diese Mädchen mit den schrecklich schwarzen Augenringen. Erst auf den zweiten Blick wurde mir klar, dass die Augenringe in Wahrheit Kajal waren. Schwarzer Kajal. Ich denke es wird dann wiederum ein paar Wochen später gewesen sein, als man mich aufklärte, dass das Mädchen kein Mädchen, sondern ein Junge ist. Erleichtert atmetet ich auf, grübelte ich doch schon seit Tagen darüber nach, wie man ein Mädchen nur Bill nennen konnte. Und dann begann ich sie nicht zu mögen.

Eigentlich war es auch gar nicht möglich, die vier Jungs zu mögen. Ich möchte fast behaupten, dass der normalsterbliche Durchschnittsbürger, der sich klassischer Printmedien bedient, um etwas über das Geschehen im In- und Ausland zu erfahren, nicht fünf Sekunden die Chance bekam, da irgendetwas dran gut zu finden. Und auch wenn der Mitschwimm-Strom schnell an mir vorbei schoss und ich diesen bisher nur mit einem abfälligen Blick über die Schulter wahrgenommen hatte, so wurde ich schließlich mitgerissen. Mitgerissen in diesem „Wir mögen Tokio Hotel nicht!“-Strom.

Mal ehrlich, was gab´s daran auch gut zu finden? Diese Single da, die wochenlang auf Platz eins rum hampelte, durch den Monsun und hinter die Welt ging und einen stundenlang als Ohrwurm quälen konnte? Bestimmt nicht. Dieser extrovertierte Junge von gerade mal fünfzehn Jahren, der die Frechheit besaß zu sagen, er wolle nicht sein wie die anderen und sich auch so verhielt? Wie soll man so jemanden auch gut finden können?

Bei der Erkenntnis angelangt, dass man mit nahezu jedem Fremden unglaublich schnell ins Gespräch kam, wenn man bei der fünfhundertachtundsechzigsten Wiederholung dieser Single nur gekonnt die Augen verdrehte und verzweifelt aufstöhnte, fand ich „meine“ Meinung plötzlich sogar richtig gut. Allerdings war meine Argumentation nicht wirklich neu. Der häufigste Grund, Tokio Hotel nicht zu mögen, war wohl der, dass sie mit ihrer ständigen Präsenz immer und überall nervten. Dass es nervte, dass ein halbes Fernsehstudio in Hysterie und Atemnot verfiel, sobald Tokio Hotel das Studio betraten … dabei wollte man doch nur ihn Ruhe den Herrn Jauch gucken. Der Besitz einer Fernbedienung schien mir zu diesem Zeitpunkt anscheinend nicht wirklich bewusst gewesen zu sein, oder warum schaltete ich nicht um? Wieso schalteten auch die Anderen nicht um und konnten so am nächsten Tag ausführlich mit mir darüber lästern, wie peinlich und schrecklich die Teenies von heute doch so sind. Wir waren nicht so! Hm, ja ja.

Dann, vor einem halben Jahr wohl, hörte ich mal wieder Radio. Man muss wissen, dass ich sehr selten Radio höre, was meine Argumentation einige Sätze weiter oben jetzt wahrscheinlich in einem zweifelhaften Licht dastehen lassen, aber nun gut. Das Lied, welches da gerade lief, gefiel mit. Punkt, Aus, Ende. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen oder zu denken. Am Abend berichtete ich zu Hause von diesem Lied, versuchte mich an Wortfetzen zu erinnern und den Stil zu beschreiben. Alles was ich erntete war ein lautes, schallendes Lachen, einen nackten Finger, der sich in meine Richtung bohrte und die Aufklärung, ich würde einen Tokio Hotel-Song gut finden. Ha ha ha.

Zunächst wurde ich rot, dann schneeweiß und während ich mich so in meiner Scham suhlte, wurde mir die Frage bewusst, woher der Mann, mein Mann, wusste, dass dieses Lied von Tokio Hotel ist? Ich hatte weder gesummt, noch waren meine Andeutungen wirklich ausführlich. Ich beschloss dieses Phänomen an weiteren Probanden auszuprobieren und konnte in den folgenden Wochen die Erfahrung sammeln, dass anscheinend halb Deutschland besser über die vier Jungs bescheid wusste, als ich. Da fragt man sich dann doch, warum sich erwachsene Menschen so sehr mit einem Thema auseinander setzen, das sie gar nicht interessiert, das peinlich und pubertär und vor allen eins ist: nicht authentisch! Medien- und Marketingblase, sag ich nur. Aha.

Es war schließlich ein Job, der mich dazu verdonnerte, mich mit dem Phänomen Tokio Hotel tatsächlich ernsthaft auseinander setzen zu müssen. Biografien lesen, Fotos sichten, ihre Musik hören. Was habe ich mich zunächst dagegen gesträubt. Was habe ich dies plötzlich alles gerne getan. Die Musik war gut, wirklich gut. Damit meine ich jetzt das Handwerk Musik, nicht die Stimme. Die kann ich erst ertragen, seit der Knabe, inzwischen siebzehn, im Stimmbruch war. Ich fand die einzelnen Charaktere interessant und die Tatsache, dass sie deutsch singen, hervorragend. Und ich liebe es, dass sie polarisieren.

Die Fragen, die unser Land beschäftigen sollten, lauten, was Eltern in ihrer Erziehung falsch gemacht haben, dass sich dreizehnjährige Mädchen mit einem Edding „Fick mich!“ auf die Stirn schreiben? Oder warum Volljährige kleinere Jungs verprügeln und „Schwuchtel!“ hinterher rufen, weil sie sich schminken, weil sie anders sein wollen? Oder warum Bands wie Juli oder Silbermond weniger Gegner haben, dafür aber leider Gottes auch weniger Erfolg?

Ich bin der festen Überzeugung, dass alles einen Sinn, eine Daseinsberechtigung hat. Und wenn der Sinn von Tokio Hotel der ist, dass sich pubertierende Mädchen durch deren Musik und Texte verstanden fühlen, dass eine ganze Generation von Teenagern eine Meinung entwickeln und lernt diese zu vertreten, dann lehn ich mich zurück, nicke und finde das gut.

„Es gehört oft mehr Mut dazu, seine Meinung zu ändern, als ihr treu zu bleiben.“, hat Christian Hebbel mal gesagt und wird als Lebensweisheit oft zitiert.

Wissen Sie, ich mag Tokio Hotel … und ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht tun oder zugeben sollte. Und ich wette darauf, dass die neue Single großes Gefallen in der Bevölkerung finden wird, bis einer nach dem anderen zu Hause oder im Büro darüber aufgeklärt wird, dass er ein Lied von Tokio Hotel gut findet.

Achtung, fertig, los und lauf …

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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