Endgültig.

Hi, mein Name ist Kati und heute ist mein 30.Geburtstag. Vielleicht genau der richtige Zeitpunkt, um mit einer Lüge aufzuräumen, die meinen Alltag – unseren Alltag – begleitet. Man könnte es also getrost eine Lebenslüge nennen. Uns ist in diesem Fall mein Freund Tom und unsere wundervolle Tochter Lill. Lill ist zwei Jahre alt, auf den Tag genau, denn dieser Tag ist unser Geburtstag. Und mit ihrer Geburt beginnt auch die Lüge, die zu dem führte, was wir heute haben. Ein glückliches, harmonisches und unbeschreiblich einzigartiges Leben. Zu dritt. Ihr werdet Euch nun fragen, wo die Logik bleibt. Ich will es Euch erklären …

Ich war 20 Jahre alt, als mir Martin über den Weg lief. Ich war mit Freundinnen in einer Disko in Kassel, wo ich damals noch lebte. Um genau zu sein wohnte ich im Druseltal, was heute noch bei jedem zu einem lauten Lachen führt, wenn ich davon erzähle. Aber eigentlich tut das nichts zur Sache.
Jedenfalls traf ich Martin an der Bar, als ich mir gerade ein neues Getränk holen wollte. Er beobachtete mich, wie ich mich über die Bar lehnte, dem Barkeeper zulächelte und ja, vielleicht sogar anflirtete. Es geschah, was sonst nur in diesem schrecklich kitschigen Frauenromanen passiert. Er spendierte mir den Drink, machte mir Komplimente, tanze mit mir und brachte mich später sogar nach Hause. Er fuhr mich genau bis vor die Haustür, drückte mir ein flüchtiges Küsschen auf die Wange und verabschiedete sich. Mehr passierte an diesem Abend nicht, aber heute glaube ich, dass genau diese Zurückhaltung dazu führte, wo wir nur ein Jahr später standen.

Wir wohnten zusammen in einer wunderschönen neunzig Quadratmeter Wohnung in Frankfurt, wo Martin als Product Manager arbeitete. Es ging uns gut, finanziell und beziehungstechnisch. Er war dreizehn Jahre älter als ich, was mich nie wirklich störte, aber manchmal hatte ich das Gefühl, von ihm bevormundet zu werden. Auch gefiel mir nicht, dass ich quasi auf seine kosten lebte, denn während er einen zwölf Stunden Tag hatte, ging ich studieren. Ohne Nebenjob.

Wir hatten guten Sex, einen großen Freundeskreis und eine ganze Latte an Statussymbolen. Große Autos, riesige Fernseher in beinahe jedem Raum, immer die teuersten Klamotten am Leib. Eigentlich hätte ich diese Leben lieben sollen, doch irgendwann, schleichend und von mir zuerst nicht bemerkt, änderte Martin sich. Immer öfters kritisierte er mich und mein Auftreten. Er nannte mich albern, naiv und in diesen kleinen Momenten, in denen er mir richtig wehtun wollte, sogar dumm. Ich weiß nicht wirklich was ihn plötzlich an mir störte, aber ich tat alles dafür, ihm und seinen Vorstellungen gerecht zu werden. Ich kleidete mich fortan edler, sprach in Gesellschaft seiner Kollegen nur, wenn ich etwas gefragt wurde und beherrsche innerhalb kürzester Zeit dieses perfekte, nichts sagende Lächeln. Es war ein Albtraum.

Ich weiß nicht, warum ich mich damals nicht von ihm trennte. Vielleicht waren es auch die materiellen Dinge, von denen ich in dieser Beziehung profitierte, das will ich nicht leugnen, aber in erster Linie war es meine Liebe zu ihm. Dass Martin zwei Gesichter hatte, lernte ich nach und nach schmerzlich. Er war oft dieser unheimlich charmante, aufmerksame und lustige Mann, dem ich mit zwanzig Jahren mein Herz geschenkt hatte. Aber noch viel öfter war er dieses miese, widerliche Arschloch, dessen Ziel es war, mir weh zutun. Gott, was ich mir damals alles anhören musste. Es tut noch weh, sich nur daran erinnern zu müssen. Er schaffte es, dass ich fünf Kilo in nur zwei Wochen abnahm, indem er mich morgens im Badezimmer eine fette Kuh nannte. Bei einem Gewicht von 53 Kilo und einer Größe von 1,70 Meter war ich naiv und dumm genug, ihm zu glauben. Meine Selbstwahrnehmung wurde immer gestörter. Martin musste nur erwähnen, dass er die langen, blonden Haare von der und der Schauspielerin traumhaft fand und keine zwölf Stunden später hatte ich blonde Haare. Dass das zu meinem blassen Teint und den Sommersprossen, die Rothaarige ja häufig schmücken, gar nicht passte, war dabei egal. Hauptsache Martin war glücklich und zufrieden, denn dann meckerte er nicht an mir herum oder beschimpfte mich. Meist folgte solchen Aktionen, aus denen er quasi als Gewinner hervorging, atemberaubender Sex. Er war gut im Bett, um es mal platt zu sagen. Er ging auf mich ein, fand die entscheidenden Stellen und brachte mich gut und gerne in einer Nacht fünf Mal zum Höhepunkt. Dann schwebte ich wieder auf Wolke sieben, trotz Untergewicht, welches von Haarausfall und einer unregelmäßigen Periode begleitet wurde oder den blonden, kaputten und strohigen Haaren, die mich wie das Leiden Christi wirken ließen.

Meine Familie besuchte ich so selten wie möglich, da sie mich immer wieder ins Gebet nahmen, mir erklärten wie schlecht ich aussehen würde und dass ich mich selber zu Grunde richten würde. Deprimiert und am Boden zerstört kehrte ich jedes Mal nach Hause und fand in Martin die Person, die mich auffing, die mir erneut beteuerte, dass ich großartig aussehen würde und ich mich von ‚den Idioten´ doch nicht runterziehen lassen sollte. Es war ein Teufelskreis, aus dem ich nicht ausbrechen konnte. Also brach ich den Kontakt zu meiner Familie ab. Endgültig.

Nach fünf Jahren Beziehung kam ich dann doch das erste Mal an den Punkt, an dem ich ihn verlassen wollte. Ich packte meine Tasche und verließ ohne eine Nachricht zu hinterlassen das Haus. Zwei Tage später war ich wieder da, da mich Schuldgefühle quälten, wenn ich daran dachte, dass niemand seine Wäsche waschen und er sich sicherlich nur von Pizza ernähren würde.

Die folgenden Wochen schien Martin wieder der zu sein, in den ich mich verliebt hatte. Vielleicht hatte mein kleiner Ausbruch doch etwas bewirkt, glaubte ich anfänglich und ließ mich von Tag zu Tag wieder mehr auf ihn und seine Manipulationsversuche ein.
Das wird dann auch etwa die Zeit gewesen sein, in der Tom in mein Leben trat. Wir hatten uns in einem Internetforum für Buchhändler und Bücherliebhaber kennen gelernt. Er war dort Moderator, wenn ich mich richtig erinnere und arbeitete in einer großen Buchhandlung in Hamburg. Unser Geschmack, was Bücher betraf, war nahezu identisch und wir chatteten viel und lang über unsere Lieblingstitel und die möglichen Intentionen der Autoren. Über private Belange sprachen wir nie.

Rund einen Monat nach meiner Rückkehr zu Martin fuhr ich zu einem Forentreffen nach Hamburg. Ich freute mich, mich mit vielen Menschen, die meine größte Leidenschaft teilten, zu treffen und ein Wochenende nur für mich zu haben. Ohne Rücksicht auf Martin, der mich überraschender Weise ohne ein Murren fahren ließ.

Ich saß bereits eine halbe Stunde mit anderen Usern des Forums zusammen, als die Tür des Cafés aufging, in welchem wir uns getroffen hatten, und dieser große junge Man hereinkam, dessen Blick erst durch den Raum glitt und schließlich wie erstarrt an mir hängen blieb. Er kam auf uns zu und obwohl ich nie zuvor ein Foto von ihm gesehen hatte, wusste ich, dass er Tom sein musste. Er gab einem nach dem anderen die Hand, blieb dann vor mir stehen und grinste. „Hi Kati.“ Ich lächelte, stand auf und nahm ihn so herzlich in den Arm, wie ich nie zuvor einen vermeintlich Fremden in den Arm genommen habe. Mir wurde übel vor Aufregung und meine Hände waren pitschnass, als er diese Umarmung nicht weniger herzlich erwiderte.

Tom wurde mein bester Freund. Wir telefonierten oft und lang und sogar Martin erzählte ich von ihm. Erstaunlicherweise zeigte er nicht mal ansatzweise so etwas wie Eifersucht und so war es auch nicht weiter problematisch, als Tom mehrere Tage bei uns wohnte, um in Frankfurt die Buchmesse zu besuchen. An seinem vorletzten Tag bei uns begleitete ich ihn und wir gingen anschließend noch zu diesem kleinen Italiener, zu welchem ich Martin in mittlerweile sieben Jahren Beziehung nicht einmal hatte überreden können. In so einen Schnellimbiss würde er nicht gehen, war stets sein Argument.

Tom und ich tranken Wein. Viel Wein. Und ich weiß bis heute nicht, was mich ritt, als ich ihm von meiner Unzufriedenheit berichtete, von dieser Beziehung, die mich einengte und die mir keine Luft mehr für mich selber ließ. Zunächst war er verwundert, hatte ich doch in den vergangenen zwei Jahren die Illusion von der perfekten Beziehung aufrechterhalten. Und so gestand ich ihm, dass das alles nur eine Fassade war, nichts davon der Wahrheit entsprach und ich todunglücklich war.

Er versuchte mich den Rest des Abends davon zu überzeugen, dass nichts leichter sei, als Martin zu verlassen und ihn gänzlich aus meinem Leben zu verbannen. Doch ich glaubte ihm nicht. Zu oft war ich in den vergangenen zwei Jahren schon umgefallen, eingebrochen und hatte ihm – Martin – schließlich die fünfundzwanzigste Chance gegeben. Wieso sollte ich es jetzt schaffen?

Tom fuhr am nächsten Morgen und ich blieb dort, wo ich glaubte hinzugehören. Bei Martin. Durch Toms Bestätigung meiner Situation, dass Martin mich schlecht behandelte und ich im Recht war, schöpfte ich jedoch Mut, mir wieder mehr Freiräume zu erkämpfen. Nicht aber ohne Verluste. Für jede Freiheit, die ich mir nahm, erhielt ich neue Beschimpfungen und neue Fehler aufgewiesen. Je mehr ich versuchte, wieder ich selber zu werden, umso mehr betonte Martin, wie minderwertig und fehlerhaft ich war. Wäre Tom nicht da gewesen und hätte mir am Telefon immer und immer wieder gesagt, dass das nicht stimme, ich hätte Martin vermutlich wieder geglaubt. Ich arbeitete folglich darauf hin, stark genug zu sein, um Martin endgültig verlassen zu können. Zwei Wochen lang war Tom beinahe täglich meine Stärke, meine Motivation und mein Selbstbewusstsein. Bis zu dem Tag, an dem ich ihn anrief und ihm mitteilte, dass ich Martin verlassen würde. Endgültig.

Er fragte, ob er kommen solle. Ob ich Unterstützung und Rückhalt benötigen würde. Ich verneinte, weil ich wusste, dass Martin auf diese Mitteilung ganz sicher nicht ruhig und besonnen reagieren würde. Ich wollte verhindern, dass Tom mitbekam, wie ich in Selbstzweifel schwanken würde, wie ich mich zurück in Martins Arme sehnen würde, wie ich mich selber zum hundertsten Mal fragen würde, ob nicht ich diejenige war, die alle Fehler begangen hatte. Aber dennoch war ich mir sicher, es diesmal zu schaffen. Ganz sicher.

Ich schaffte es nicht. Ich kam zurück, versöhnte mich mit Martin, schlief mit ihm.

Rund einen Monat später stand ich bei Tom vor der Tür. Blind vor Tränen und mit all meinem Hab und Gut bepackt. Zwei Koffern. Ohne Fragen zu stellen ließ er mich rein, nahm mich in den Arm und hielt mich eine ganze Nacht fest, ohne einen Ton zu sagen. Erst am folgenden Morgen fanden wir unsere Stimmen wieder und er fragte mich sehr vorsichtig, was passiert sei. Meine Antwort war ein Flüstern, so sehr hatte ich selber Angst vor ihr.

„Ich bin schwanger … von Dir.“

In diesem Moment hätte meine Welt in sich zusammenbrechen können. Ein Armageddon meines ganz persönlichen Universums. Ich, als allein erziehende Mutter in einer fremden Stadt, von meiner Familie entfremdet und ohne auch nur einen einzigen Freund. Doch alles, was Tom tat, war zu lächeln, mich an sich zu ziehen und mir über das Haar zu streichen.

„Wow, ich werde Vater“, sagte er leise und mit einer wahnsinnig zärtlichen Stimme.

Ich liebte ihn für diese Reaktion. Ich liebe ihn heute noch dafür. Lill kam acht Monate später, an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag zur Welt.

Wir sprachen nie wieder über die Vergangenheit und über Martin. Ich wusste, dass ich Martin für immer losgeworden war, als ich ihm von meiner Schwangerschaft erzählte. Und von der Tatsache, dass er nicht der Vater war.

Lill ist wunderbar und ich glaube inzwischen, dass sie so etwas wie mein Schutzengel ist. Mit ihr kamen das Glück, die Liebe und eine Zukunft, auf die man sich freut. Tom ist ein wundervoller Vater, ein großartiger Freund und macht nach wie vor einen großen Teil meiner Stärke und meiner Motivation aus. Er macht mich vollständig und ich weiß, dass es das war, was ich bei unserer ersten Begegnung schon gespürt habe.

Heute Morgen, nachdem er mir das Frühstück ans Bett gebracht hat und mir zu meinem Geburtstag gratuliert hat, hat er um meine Hand angehalten. Er sagte, wir sollen so unsere kleine Familie und unser Glück doch endgültig besiegeln. Nichts lieber als das, mein Liebster. Nichts lieber als das!

Aber können wir wirklich mit dieser Lüge weiter leben? Wenn ich diesen Schritt gehe, wenn wir gemeinsam diesen Schritt gehen, dann lass uns ehrlich sein. Ich sehe von meinem Laptop auf, ihm in die Augen. Ich sehe, dass er genau weiß, was ich nun sagen werde. Ich sehe, dass er genau weiß, was ich hier gerade unter Tränen geschrieben habe. Es musste irgendwann soweit kommen.

An diesem Tag, an dem ich bei Tom vor der Tür stand, mit zwei Koffern – Ihr erinnert Euch? Und der Tag darauf, als ich ihm sagte, er würde Vater werden und er sich so sehr gefreut hat … an diesem Tag schliefen wir das erste Mal miteinander. Nachdem er mich das erste Mal geküsst hatte.

Tom hat mich gerettet. Mich und Lill. Und dennoch kann ich mit dieser Lüge nicht leben. Aber ich werde mit der Wahrheit leben müssen. Mit der Wahrheit und Tom an meiner Seite.

Endgültig.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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16 Gedanken zu „Endgültig.

  1. Ich schließe mch den anderen an: Danke für diese wunderbare Geschichte.
    Wobei ich mich frage, wieviel davon Geschichte ist und wieviel wahr. Aber grade das macht es noch spannender, zu glauben, es könnte alles genauso passiert sein.

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