Aus seiner Sicht.

Sein Start in den Tag war definitiv nicht der Beste. Wollte er sich doch leise in Mamas Bett schleichen, sich noch ein bisschen neben ihr unter die Decke kuscheln und dösen. Da hatte er aber nicht mit der kleinen Schwester gerechnet, die die geöffnete Zimmertür sofort wahrnahm, aus dem Bett sprang und hinterher rannte. Natürlich kuschelte sie sich nicht still und heimlich auf die andere Seite des Bettes, auf die andere Mama-Seite. Nein, sie musste sich ja direkt auf Mama drauf setzen, hopsen und „Hallo? HALLO?“ schreien. Grmpf. Natürlich hat sich Mama darüber nicht gefreut. Natürlich hat sie dann gemurrt und die kleine Schwester von sich runter geschoben. Die wollte aber partout nicht aufgeben, setzte immer wieder zu schmerzhaften Übergriffen an, bis Mama schließlich entnervt aufstand und verkündete: „Zähneputzen!

Missmutig trollte auch er sich aus dem Bett, schlurfte ins Badezimmer, wo sich der große Bruder schon auf den großen Hocker gestellt hatte. Super. Also blieb ihm nur der kleine Hocker, von dem aus er zwar das Waschbecken erreicht, nicht jedoch in den Spiegel gucken kann. Die Zahnpastatube hatten die Geschwister auch schon fast leer gedrückt. Doppelgrumpf. Die kleine Schwester kam rein, jaulte entrüstet auf, weil alle Hocker besetzt waren und drängelte sich dann neben den großen Bruder. Geschubse und Gedrängel. Immerhin hatte er auf seinem kleinen Hocker Ruhe.

Seine Anziehsachen hatte er am Abend zuvor zurecht gelegt. Nun hatte die kleine Schwester alles auseinander gepflückt, durch die Gegend geworfen und rannte mit seiner Unterhose auf dem Kopf johlend vor ihm weg. „Maamaa.“ Sein gequälter Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Zum Glück konnte die Unterhose dann doch noch befreit werden, was einen kleinen Wutbauchplatscher der Schwester mitten im Flur nach sich zog. Immerhin war sie so lang genug abgelenkt, damit er sich schnell anziehen und nach unten gehen konnte. 5 Minuten Ruhe, in denen er die Geschwister oben meckern und nölen hörte. Der große Bruder wollte lieber Lego spielen, als sich anziehen, die kleine Schwester krampfhaft Socken anziehen, obwohl Mama doch gesagt hatte, heute würde es heiß werden.

Irgendwann kamen sie dann alle gemeinsam runter. Vorbei war die Ruhe. Der große Bruder richtete seine Brotdose, jammerte darüber, dass Mama ihm Banane statt Apfel hinlegte, während die kleine Schwester immer wieder die Himbeeren aus dem Kühlschrank nahm und durchs Haus trug. Er hörte Mama auf der Toilette entnervt wiederholen: „Stell die Himbeeren bitte wieder in den Kühlschrank. Trag sie nicht herum. Ich komme ja gleich.

Oaaar, dieses Gebrabbel überall. Der große Bruder untertitelte jeden Handgriff den tat, wollte dazwischen noch wissen, wie der Strom in die Steckdosen kommt und warum Autos genau 4 Räder haben. Also wirklich. Morgens um 7 Uhr!

Er legte sich auf den Teppich, hielt sich die Ohren zu und kniff die Augen zusammen. Ruhe! Ich bin noch müde! Er summte das Drache Kokosnuss Lied, damit er den restlichen Trubel nicht hören musste. Leider konnte er so auch Mamas Frage, was er in seien Brotdose haben wolle, nicht hören. Sie muss das ganz schön oft gefragt haben, denn irgendwann rief sie so laut seinen Namen, dass er es sogar durch die Hände auf seinen Ohren hörte. Er zuckte kurz, reagierte aber nicht.

Irgendwann rannten seine Geschwister beide bereits mit Schuhen an den Füßen durchs Wohnzimmer. Schuhe? Huch. Wann war denn das passiert? Müde sah er auf und erkannte, dass alle bereits Abfahrbereit im Flur standen. Er hatte immer noch keine Schuhe an den Füßen. Mama sah ihn ermahnend an. „Schuhe!!!“ Dann öffnete sie die Haustür und trug den Korb mit den Rucksäcken zum Auto. Die Geschwister folgten ihr. Und er saß allein im Wohnzimmer auf der Erde, neben ihm seine Schuhe. Die fahren ohne mich! schoss es ihm in den Sinn und sofort kullerten die Tränen. Hektisch griff er nach seinen Schuhen, versuchte hineinzuschlüpfen, doch vor lauter Tränen klappte das nicht sofort. Er weinte lauter. Gerade als er den letzten Riemen geschlossen hatte – die Haustür stand immer noch weit offen – kam Mama zurück, nahm ein Taschentuch aus der Box und ging wieder hinaus. „Kommst Du?“, rief sie ihm zu. Er sprang auf rannte hinterher und blieb vor dem Auto wie angewurzelt stehen. Mama hatte doch tatsächlich den großen Bruder schon angeschnallt. Dabei hatten sie doch die Regel, dass er morgens als erster angeschnallt wird. Und nachmittags der Bruder. Sein Weinen wurde wieder lauter. Schluchzend kletterte er in das Auto, setzte sich hin und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. 

Mama, die der kleinen Schwester noch die Nase geputzt hatte, erschien in der Wagentür, beugte sich über ihn und schnallte ihn an. Dann wendete sie sich ihm zu, wischte die Tränen von seinen Wangen und legte die Stirn in Falten. „Heut ist kein guter Morgen, hm?“ Er nickte, umklammerte ihren Hals und zog sie ganz fest an sich. Eine Weile verharrten sie so dann gab sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Haare, weil er es überhaupt nicht mag, ins Gesicht geküsst zu werden. Mama weiß das. Ein Glück!

Die Fahrt zum Kindergarten verbrachte er schweigend aus dem Fenster starrend. Immer dieser Tumult am Morgen. Und das, wo er es doch viel lieber ruhiger mag. Noch ein bisschen Kuscheln, in Ruhe Zähne putzen und dann Anziehen. Aber nein. Ständig muss einer herum krakeelen, Sachen wegnehmen oder verstecken und vor allem reden, reden, reden. Anstrengend!

Im Kindergarten angekommen steigt er als erster aus dem Auto und hilft Mama, den Korb mit den Rucksäcken und Jacken hineinzutragen. Während seine Geschwister über den Flur rennen und schreien, zieht er sich die Schuhe aus, räumt sie weg, schlupft in seine Hausschuhe und drückt sich dann ganz fest an Mamas Bein.

Mama geht vor ihm in die Hocke: „Manchmal fangen Tage blöd an. Aber die müssen dann nicht so bleiben. Meistens werden die dann noch ganz schön.“ Er umarmt Mama ganz feste, seufzt tief und murmelt: „Ich hab Dich so lieb. So so lieb.“ „Ich weiß mein Herz. Ich Dich doch auch.

Dann geht er in seine Gruppe und beginnt zu frühstücken. Ein Glück hat Mama genau das eingepackt, was er ohnehin haben wollte. Obwohl er nichts gesagt hat.  

Mama drückt ihm noch ein Küsschen auf die Haare und verabschiedet sich. Als sie den großen Bruder und die kleine Schwester in ihren Gruppen abgegeben hat, kommt sie noch mal rein. Das tut sie sonst nie.

„Alles okay mein Herz?“ Er nickt. „Hab einen wunderschönen Tag. Bis später.“ Er lächelt. Das erste Mal an diesem Tag kann er richtig lächeln. „Du auch!“ grinst er und winkt.

Ja, das Leben eines 4-Jährigen ist manchmal lauter und anstregender, als ihm lieb ist. Aber ihm großen und ganzen, ist es so, wie es ist, doch auch ganz schön.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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41 Gedanken zu „Aus seiner Sicht.

  1. Wow, da sind mir die Tränen in die Augen gestiegen. Das Löwenmaul (und natürlich auch der Quietschbeu und das Meedchen) haben riesiges Glück, eine Mama zu haben, die sich bei allem Trubel so gut in sie hineinversetzen kann.

  2. oh gottchen irgendwie hab ich ganze Zeit schlucken müssen. der kleine Kerl; so Tage kenn ich auch. bloß dass wenn sie blöd anfangen es meistens bei mir auch so bleibt.. leider.

  3. wunderbar geschrieben.?? die kleinen haben’s manchmal echt schwer, das muss ich mir auch immer wieder ins gedächtnis rufen. danke fürs erinnern!

  4. … kann ich eine Scheibe davon haben?? Nur eine klitzeklitzekleine? Die würde mir morgens so so gut tun….
    Ich denke morgen an Sie, Frau Miez
    Herzlichen Dank

  5. Ohhhh. Schnief. Hach ja. Das war wirklich einfühlsam geschrieben, man hat den Tag direkt aus den Augen eines Vierjährigen miterlebt. Vielen Dank dafür!

    Liebe Grüße!

  6. Jetzt sitze ich hier vorm Kosmetiksalon u muss meiner Kosmetikerin gleich erklären, warum ich so verheult aussehe…wundervoll geschrieben (aber mein hormongeschwängertes Herz schmerzt….weils bei uns oft auch so ist)…

  7. Wunderschöner Beitrag! Ich nehme mir vor, ab und zu auch mal in die Denke meines Dreijährigen hineinzuschlüpfen! Das ist eine gute Sache und hilft bestimmt, manchmal etwas geduldiger und verständnisvoller zu sein! Danke für die Anregung!

  8. …da stehen mir die Tränen in den Augen. Ich fühle mit dem kleinen Mann und es hilft so sehr dabei, plötzlich doch wieder Verständnis für meine beiden zu haben. Wir hatten gerade eben analog dazu einen schlechten Start in den Nachmittag und ich fühlte meine Geduld nicht nur zu bröckeln, sondern regelrecht zusammenbrechen. Jetzt ist alles wieder gut!:-)
    Danke fürs Perspektive zurechtrücken!

  9. Hallo Frau Miez,

    ein wunderschöner Beitrag, der mich schmunzeln ließ und mein Herz erwärmte.
    Ich habe Ihren Blog vor 2 Wochen entdeckt und bin seitdem begeisterter Leser, obwohl Kinderlos. Ihr Schreibstil fesselt mich und ihre wunderschönen Familiengeschichten lassen mich von meiner eigenen Zukunftsfamilie „träumen“.

    Ich weiß, dass Sie es in letzter Zeit nicht leicht hatten und wünsche Ihnen alles Liebe. Genießen Sie die Zeit mit Ihren Kindern und lassen Sie uns bitte weiterhin teilhaben.
    (Ich würde mich auch für den Tag aus dem Blickwinkel des Miezmeedchens interessieren <3 )

    Alles Liebe und Gute der Welt,
    Ms.NinBerry

  10. Wie schön geschrieben. Das hat mich wirklich berührt. Und wieder frag ich mich, nachdem ich einen Eintrag dieser Art lese, kann ich das auch? Später vielleicht? Oder eventuell jetzt schon??? Unser Sohn ist 18 Monate. Er ist unser erstes Kind. Liegt es einer Frau in den Genen? Wird dieses Einfülungsvermögen bei jedem Kind größer? Ich hoffe und wünsche mir, dass ich mein Kind so verstehe wie sie die ihren…Danke

  11. Hallo!
    Das hast du wirklich schön ge- und beschrieben. Ich versuche auch oft Dinge aus Sicht der Tochtermaus zu betrachten, was allzu oft in der Geschwindigkeit des Alltags untergeht. :)
    Da hat dein kleiner Mann es doch recht schwer, hm? Ich mag Morgende nicht. Noch nie. Es sei denn sie beginnen viiiiiel zu früh und allein und in Ruhe. ;) Aber meist wird es ein Gehetze, alle müssen an was denken, sich gegenseitig anspornen fertig zu werden usw. Wir Erwachsene hier sind beide keine Morgenmenschen.
    Achja… Mensch. Da ist es dir sicher auch schwer ums Herz…
    Liebe Grüße Ulrike

  12. Oh das macht mir ein komisches Gefühl im Bauch, mit tränchen in den Augen. Ich kann mich so in den kleinen Mann reinfühlen und du seine Mama auch…das ist es was Kinder brauchen, eine Mama die die Bedürfnisse erkennt und gefühle wahrnimmt und akzeptiert und einfach liebt…

  13. *schnief* Ich musste eben wirklich schlucken.
    Kenne -obwohl nur zwei Jungs – diese Ambivalenz zwischen Alltags-Hektik-weils-nicht-anders-geht und Kuschelzeit-gebe-wollen auch sehr gut!
    Haste toll geschrieben.
    LG Jule

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