Heilende Erinnerung

„Mama, weißt Du noch, wie ich als Baby immer geweint habe und Du mir ganz viele Sachen angeboten hast?“
„Hm, Du hast als Baby sehr viel geweint. Meinst Du was bestimmtes?“
„Du hast mich dann gefragt: magst Du Milch, magst Du Brot, magst Du Apfel? Und ich hab nur geweint, weil ich noch nicht sprechen konnte und Dir nicht sagen konnte was ich wollte!“
„Oh, ja, das ist aber schon sehr lange her.“
„Ich wollte Kakao. Das weiß ich noch genau! Aber geweint habe ich, weil Du Dir so eine Mühe gegeben hast mir etwas Gutes zu tun und ich Dir einfach nicht antworten konnte.“

Das hört sich für den ein oder anderen jetzt vermutlich etwas unglaublich an, aber ich glaube wirklich, dass er sich an so eine Szene noch erinnert. Mein Vater (72) erzählt auch immer davon, wie sein Vater etwas weniger Nettes über ihn sagte und er sich fürchterlich darüber aufregte, weil er noch nicht (wider)sprechen konnte. Mir geht es auch oft so. Ich habe sehr Frühkindliche Erinnerungen. Viele konnte ich mit den Jahren über meine Schwester oder auch meinen Vater verifizieren. Ich bilde mir diese nicht nur ein. Sie sind wirklich so geschehen. Auch wenn ich erst 1 oder 2 Jahre alt war.

Zum Beispiel die Geschichte vom roten Apfel, die ich bereits 2006 aufgeschrieben habe. Mit meinem heutigen Wissen um meine Hochsensibilität (die ich mit ziemlicher Sicherheit von meinem Vater habe) liest und erklärt sich der Text von damals heute viel einfacher.

Auch erstaunte es mich, wie viele Menschen sich nicht an ihre eigene Einschulung oder ihre allererste Hausaufgabe erinnern können. Ich dachte, diese Erinnerungen seien etwas völlig natürliches. Und ich meine jetzt nicht, was ich an diesem Tag anhatte (was man sich vielleicht auch anhand von Fotos eingeprägt hat), sondern die Gefühle, die ich in dieser Situationen empfand.

So erinnere ich mich an eine Szene aus der 1. Klasse. Auch bei uns gab es die obligatorische Schulmilch und als ich nach ein paar Tagen Krankheit wieder in die Schule kam, empfing mich eine Mitschülerin mit den Worten: „Ich durfte Deine Milch trinken und auf Deinem Platz sitzen!“ Da habe ich zuhause Stundenlang weinen müssen, weil ich das Gefühl hatte, ich wäre einfach so ersetzt worden und niemand hätte mich vermisst. Das Gefühl hallte lange nach und machte es mir schwer, Vertrauen zu meinen Mitschülern zu fassen.

Nach außen war ich immer die krawallige und rabaukige Pia, weil ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln für alle möglichen Leute eingesetzt habe. Laut. Hartnäckig. Selten aber für mich selber. In mir drin war ich eine kleine Heulsuse und wirklich sehr empfindsam. Und ja, vielleicht bin ich das heute auch noch dann und wann.

Und so ist es vermutlich nicht verwunderlich, dass mein große Kind nach unserer obigen Unterhaltung glasige Augen hat und: „Das tat mir echt so leid, Mama.“ ergänzt. Ich kann ihm dieses Gefühl gut nachempfinden. Darum sage ich nur „Danke, dass Du mir das erzählt hast.“ und nehme ihn feste in den Arm.

Tatsächlich hat er mich und meine Baby-Mama-Zweifel in diesem Moment ein kleines Stück weit geheilt.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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18 Gedanken zu „Heilende Erinnerung

  1. Ich bin immer froh, wenn ich solche Situationen auch von anderen lese. Wenn ich so etwas erzähle werde ich immer komisch angeschaut. Unsere Große, auch hochsensibel, hat schon ganz frühe Erinnerungen und auch ich kann mich an Dinge weit vor meinem dritten Lebensjahr erinnern.
    Leider kann Hochsensibilität auch Fluch und Segen sein, was wir nun sechste Klasse Gymnasium immer öfters bemerken.
    Jeder Tag ist eine Herausforderung ?
    Liebe Grüße
    Sabrina

  2. Sehr interessant, dass du diese frühkindlichen Erinnerungen mit deiner Hochsensibilität verbindest. Erst gestern im Gespräch mit meiner kleinen Schwester fiel mir wieder auf, dass sie sich an viel mehr Sachen aus unserer Kindheit erinnert als ich. Vielleicht ist sie auch hochsensibel?

  3. Das ist interessant! Ich hörte mehrfach von Spezialisten (Neurologe, Psychologe etc.), der Mensch könne sich erst ab 4Jahren erinnern. Ich allerdings erinnere mich auch an mein Babybad in der Wanne und daran wie der Waschlappen schmeckte, als ich an ihm saugte. Alle hielten das für unmöglich. Einbildung, Assoziationen von Fotos usw. Dann hat so eine Frühkindliche Erinnerung was mit Hochsensibilität zutun!? Danke für diesen Beitrag.

    1. Ein häufig genanntes Merkmal bei Hochsensbilität ist ein sehr ausgeprägtes Langzeitgedächtnis. Mit Langzeitgedächtnis ist hier das autobiografische Gedächtnis gemeint. Dieses speichert Erlebnisse, die auf persönliche (autobiografische) Gefühle basieren.
      Während eine normalsensible Person in der Regel keine Erinnerung an Erlebnisse vor ihrem 3. Lebensjahr hat, berichten hochsensible Personen immer wieder von frühkindlichen Erinnerungen, die bis zurück ins Babyalter führen.
      Elaine N. Aron geht davon aus, dass die Art und Weise der Verarbeitung von Informationen bei hochsensiblen Personen angeboren ist, während bei normalsensiblen Personen die kulturelle Herkunft die Verarbeitung von Informationen beeinflusst und prägt. Weiter gehen Wissenschaftler davon aus, dass normalsensible Menschen sich nicht an Erlebnisse vor ihrem 3. Lebensjahr erinnern können, da sich das Konzept des Gedächtnisses im Laufe der Entwicklung eines normalsensiblen Menschen verändert und im Erwachsenenalter daher die Unterschiede zwischen den früheren Erlebnissen und den jetzigen nicht verstanden und nicht in einen logischen Zusammenhänge gebracht werden können.
      Diese Theorie würde zumindest erklären, warum das Langzeitgedächtnis bei hochsensiblen Menschen scheinbar so viel ausgeprägter ist.

      http://www.meinhochsensibleskind.de/2014/05/langzeitgedaechtnis-und-hochsensibilitaet/

  4. Das ist so süß! Mein Bruder kann dich auch viel bessert als ich an viele Dinge erinnern, und war als Kind auch innert etwas anderes und auch wirklich sehr sensibel…. Ob ett wie du hochsensibel ist wos ich nicht, aber ich glaub ich werde mich mal genauer Danke beschäftigen. Danke für den Beitrag!

  5. Schön!
    Toll wenn sich Kreise schließen. So fühlt sich das für mich dann immer an, wenn sich eine Situation klärt. Kreis geschlossen.

    Ich kann das mit den Erinnerungen auch gut nachvollziehen. Wenn man mit nicht HSPlern redet können die das allerdings nicht nachvollziehen. Wie auch? Was man nicht kennt kann man sich nicht vorstellen.

    Zu deinen Gefühlen bei der Apfelgeschichte kann ich nur sagen….ja…so hab ich mich als Kind auch gefühlt. Und mir geht es auch bis heute so, dass ich mich für alles einsetzen kann außer für mich selber. Und das versteht auch niemand der nicht die selbe Problematik hat. Ich bin auch ein sehr agiler, fitter, tougher, fleißiger Mensch der innen Heulsuse und Angsthase ist. Natürlich nicht mehr in der Größenordnung wie als Kind, aber da ist es noch.

    Ich war aber in meiner Familie ein Alien! Von daher finde ich das so toll das du um die Besonderheit von dir und dem Quietschbeu weißt und ihr deswegen einen ganz anderen Umgang damit haben könnt.

    Bei mir hat man versucht das wegzuerziehen. So wie wenn man Linkshänder auf Rechtshändigkeit umerzieht. Das bleibt immer irgendwie fremd und fühlt sich immer als Fehler an.

  6. Mir lief und läuft es kalt über den Rücken, wenn ich jemanden ohne Schuhe auf dem Fahrrad sehe. Ein früherer Nachbarsjunge ist barfuß Rad gefahren und mit dem Zeh in die Kette geraten ist. Es hat irrsinnig geblutet und ich sehe heute noch meine Tante (mit der wir damals Tür an Tür wohnten), wie sie ihm einen Verband macht und ihn zum Arzt über die Straße bringt.
    Ich erinnere mich auch noch daran, wie meine Mutter mir mal den Schlafanzug anzog und in dem Augenblick ein Ball durchs geschlossene Fenster flog. Und wie es sich anfühlte, Papas großes kaltfeuchtes Stofftaschentuch auf dem Gesicht liegen zu haben, nachdem ich beim Spielen auf selbiges gefallen war.
    Das passierte alles in „der alten Wohnung“, aus der wir kurz vor meinem dritten Geburtstag ausgezogen sind.
    Meine Mutter meinte, dass ich das aus Erzählungen wissen müsste, aber im Gegensatz zum Rest der Familie erinnerte ich mich problemlos zum Beispiel an den Vornamen des Nachbarjungen, den ich nach unserem Umzug nie wieder gesehen habe. Und dass ich von seiner Mutter das erste Stück Wassermelone meines Lebens bekommen habe.

  7. Wow, ich bin erstaunt, dass ich er sich daran noch erinnern kann. Auch bin ich erstaunt hier zu erfahren, wie Kleinkinder ihre eigene Unfähigkeit zu sprechen wahrnehmen. Klar merkt man oft, wie wütend sie sind, wenn man sie nicht versteht, aber dass er das so explizit wiedergeben kann? Wirklich faszinierend. Und äußerst rührend, weshalb er geweint hat.
    Liebe Grüße,
    Kathrin

  8. Angeblich gibt es ja auch Kinder, die sich an die Geburt erinnern können und, wenn sie dann sprechen können, Fragen dazu zu stellen. Ich habe mal eine Geschichte gelesen, bei der die Mutter eine schwere Geburt hatte und deshalb nicht gleich für das Baby da sein konnte, erst einmal musste der Papa einspringen. Später hat das Kind seine Mutter ganz ruhig gefragt: „Mama, hattest du mich eigentlich lieb?“. Ich musste fast weinen, als ich das gelesen habe, weil es mir ähnlich ging und ich tatsächlich hoffe, dass mein Kleiner sich daran nicht erinnern kann!

  9. Ja, die Zeit geht so unfassbar schnell vorbei und oft denken wir wie schade dass wir uns nicht erinnern. Umso großartiger ist es doch wenn wir das „Hier und Jetzt intensiv mit unseren Schätzen leben, auch wenn ich gerne auf die eine oder andere schlaflose Nacht verzichtet hätte :-)
    Mir geht es oft so, dass wenn ich ihnen erzähle wie sie als Kleinkind waren mir erst selber wieder Bilder und Gefühle von meiner Kindheit kommen die einige Zeit verschüttet waren was ich auch ganz großartig finde und wir dann gemeinsam in den Vergleichen darüber lachen oder uns auch wundern können.
    Geht es euch auch manchmal so?

  10. Ich hab‘ gerade zum allerersten Mal wirklich Tränen in den Augen! <3 Soooo herzallerliebst! Und wenn ich mir diese Verzweiflung eines kleinen Babys vorstellen so traurig…

    Das mit den früher Erinnerungen wusste ich nicht! Bei uns ist es eigentlich normal, dass ich mich an einen Familienurlaub mit 18 Monaten oder einen Hummelbiss mit 2 Jahren erinnern kann. Mein Papa sich daran, wie seine Mutter ihm immer wieder den vollen Löffel Spinat in den Mund steckte und am Gaumen abstreifte (und er Panik hatte, zu ersticken, da seine Nase verdtopft war) – da war er noch kein Jahr alt. Und mein Mann erinnert sich daran, gestillt zu werden…

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