als ich fast zum Spießer wurde

Auf dem gestrigen Nachhauseweg begegnen wir in der Bahn zwei hippe Teens, die in wurstpellenartige Jeans gepresst sind, unaufhaltsam in den Scheiben der Bahn ihr Make-Up und ihre Frisur überprüfen und über irgendein neumodisches Schnickschnack-Handy die Bahn mit türkischem Pop beschallen. Natürlich tragen sie diese fürchterlichen, aber anscheinend total angesagten, Moonboots mit Pelzaufsatz, in welche sie ihre wurstpellenartigen Jeanshosenbeine gestopft haben. Ich habe wahrlich keinen kleinen Po, aber was die Damen da an Heckspoilern auffahren, ist der Wahnsinn – wohlgemerkt in wurstpellenartigen Jeans!

Wir steigen an der selben Haltestelle aus und während ich damit beschäftigt bin, meinen Schal möglichst schützend unter den Reizßverschluss meines dicken, weichen Anoraks zu stopfen, marschieren die beiden Grazien hüftfrei und mit offener Jacke (natürlich auch hier mit opulentem Pelzbesatz) an mir vorbei. Ich steinige mich innerlich dafür, meinen linken Handschuh verloren zu haben, während die Missen Moppel-Modell arschwackelnd und immer noch mit offener Jacke und hüftfrei den Bahnsteig verlassen.

Als ich mich dabei erwische, wie ich den Kopf über die Damen schüttel, greife ich erschrocken mit beiden Händen an meine Kopf und halte ihn fest. Nicht damit schütteln! Gar nicht erst mit solch einem Spießergetue anfangen! Wie verstehen das vielleicht nicht, aber wir können es doch nachvollziehen. Waren nicht wir es, die nahezu jede Jacke zu kurz und zu eng kauften und dies daheim, bei Mutti, immer mit „modischen Gründen“ rechtfertigten? Waren nicht wir es, die Hosen und T-Shirt immer zu eng trugen, damit auch jeder noch so kurzsichtige, männliche Artgenosse genau erkennen konnte, dass man selber dem anderen Geschlecht angehörte?

Und da erkenne ich plötzlich, dass das alles irgendwie Sinn ergibt. Wären mir die zwei Teenies nicht über den Weg gelaufen, wäre mir mein Heimweg sehr viel länger und kälter vorgekommen. Das ist also eine evolutionstechnische Schutzfunktion der Generationen. Ob die ältere Dame hinter mir auch innerlich den Kopf über mich schüttelt?

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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20 Gedanken zu „als ich fast zum Spießer wurde

  1. Ich finde es gar nicht schlimm, ab und zu zum „Spießer“ zu mutieren.
    Das ist das Vorrecht des Alters. Solange man im Großen und Ganzen offen und aufgeschlossen bleibt …

  2. Das die „dicken Freundinnen“ :grin: leichter gekleidet waren, als es das Wetter erfordert, hätte mich nicht gestört. Fett hat bekanntlich eine isolierende Wirkung :wink:

    Die Zwangsbeschallung mittels Handy lässt mir jedoch schnell die Halsschlagadern anschwellen. :mad:

  3. Die mp3s vom Händie laut laufen lassen ist irgendwie Murks. Dann schon lieber wie früher den dicken Ghettoblaster auf der Schulter. Dann haben alle richtig was davon, denn aus dem Händie klingt es doch arg fipsig. Früher hat sich die Jugend halt noch was getraut.
    :lol:

  4. Ja so ist das, jetzt begreifen wir so langsam was unsere Eltern empfunden haben müssen, als wir die teuren Jeans einfach zerschnitten haben und uns jedes Loch nur noch stolzer machte. An sowas merkt man tatsächlich, dass man älter wird. Nur waren wir damals nicht so fett wie die Kids von heute (McD, BK und Co. sei Dank). Das war die Gnade der frühen Geburt. :wink:

  5. „Waren nicht wir es, die nahezu jede Jacke zu kurz und zu eng kauften

    Hosen und T-Shirt immer zu eng trugen, damit auch jeder noch so kurzsichtige, männliche Artgenosse genau erkennen konnte, dass man selber dem anderen Geschlecht angehörte?“

    nö. noch nie.
    einfach beim einkauf in den spiegel schauen und gut ist.

  6. Frau Pia, herzlichen Glückwunsch: jetzt werden Sie offiziell alt.
    Der nächste Schritt ist dann, zu begreifen, dass sich trotz aller Toleranz, die man sich immer vorgenommen hat immer irgendeine Mode finden wird, über die man sich nur noch aufregen kann.

    Geben wir’s doch zu: wann immer wir gedacht haben, dass wir uns NIE! von (unseren) Kindern in Modefragen provozieren lassen wollten, haben wir immer nur an die Provokationen gedacht, mit denen wir unsere Eltern erfreut haben. Also je nach Generation Plästinensertücher, zu enge Jeans, bauchfreie Tops, …
    Und natürlich nie an diese grauenhaften Hosen, die unterm Arsch… oder diese fürchterlichen Fellstiefel… oder an »muss man denn unbedingt Deine Unterwäsche sehen, Kind?«
    :smile:

  7. Herr Christian: wahre Worte *seuftz und amen*

    Frau Katja: schade für Sie. Ehrlich.

    Zur allgemeinen Information: Ich hab NIE bauchfrei getragen. Lediglich schön knappe und enge Jeans. Wobei ich die grüne_Haare_rot_blaue_Batikhosen Zeit für meine absolute Glanzzeit hielt. Ich hatte aber nie eine Sicherheitsnadel im Ohr, nicht Herr Christian!?

  8. Das haben Sie schön gesagt.
    Passiert mir ähnlich mit den kleinen Jungs manchmal. Und dann ziehe ich zuhause die zweimannzelt-weiten Hosen aus dem Karton, die ich so geliebt habe. Und setze mein Käppi schräg auf.
    Und dann komme ich mir schon garnicht mehr so alt vor.

  9. „Frau Katja: schade für Sie. Ehrlich.“

    warum?
    ich fand es nicht schade, dass es mir NICHT den arsch abfrieren musste oder wie eine wurst mit gesicht aus dem haus zu gehen.

    ich lebe sogar heute noch gut damit :-)

  10. Das haben Sie falsch verstanden. Scheisse sahen auch wir nicht aus und gefrohren haben wir auch nicht … aber trotzdem haben wir Dinge getragen, die wir heut wohl als „unsinnig“ betiteln würden.

    Pubertät eben … :wink:

  11. Wissen Sie Frau Katja, wenn Sie mir die Stelle zeigen, an der ich geschrieben habe, dass wir mit freiem Rücken rumgelaufen sind, gebe ich ihnen sogar recht.

    Bis dahin …

  12. „[..]meinen Schal möglichst schützend unter den Reizßverschluss meines dicken, weichen Anoraks zu stopfen, marschieren die beiden Grazien hüftfrei und mit offener Jacke [..]“

    Mal ehrlich, so eine Narbe von einer Nieren-OP hat auch was schmückendes. Das Fett aus den Ärschen ergibt ne tolle Seife und das tönernde Handy würde beim Handy-Weitwurf sicherlich Bestweiten erziehlen. Ich konnte übrigens mit Leuchtend-blauen Haaren aufwarten…

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