so lang es wehtut

So oft hat sie mir schon von ihrem Gedanken erzählt, ihn zu verlassen. Nicht, weil da keine Gefühle mehr sind, sondern weil sie sich eingesperrt fühlt, in den eigenen vier Wänden.
Ihre Augen schimmerten immer stark, wenn sie mir erzählte, dass er nur noch an ihr herum meckern würde. Dass er entweder krank sei und bemuttert werden wolle oder ihr den liegen gebliebenen Haushalt vorwarf. Er tat und ließ was er wollte und erwartete zeitgleich, dass sie ihm dabei entweder Gesellschaft leistete oder sich still und unbemerkt in eine Ecke setzte und ihn nicht störte. Eigentlich, wenn ich ihren Erzählungen folgte, beschlich mich das Gefühl, als habe sie einfach verlernt egoistisch zu sein. So, wie sie es früher mal war. So, wie ich sie in Erinnerung habe und ich wie sie mochte. So verrückt, albern und einfach glücklich.
Jetzt, so erzählt sie mir, wäre sie nicht mehr so verrückt und albern. Es wäre ihm peinlich, glaubt sie.
Sie teilen kaum ein Interesse, doch während sie seine akzeptiert und sogar dann und wann längeren Ausführungen über Themen lauscht, die sie eigentlich gar nicht ansprechen, knüppelt er auf ihre Interessen ein, macht sie schlecht und zieh sie ins Niveaulose. Überhaupt kämpft er sehr häufig unter der Gürtellinie, meint sie. Gemeine, fiese und dann und wann auch erniedrigende Dinge wirft er ihr an den Kopf, fasst sie hart an und ist noch wütend, wenn sie vor Angst zusammen zuckt. Sie erzählte mal, er würde dann sagen, dass sie nur zucken würde, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Dann habe er sie nachgeahmt, das Gesicht verzogen und Heulgeräusche von sich gegeben.
„In dem Moment hätte ich ihn erschlagen können … in dem Moment habe ich ihn gehasst.“
Ob das Gefühl wieder weggegangen sei, wollte ich von ihr wissen, worauf sie mir zuerst keine Antwort gab.
„Man kann nur hassen, was man mal geliebt hat. Dass hast du mal zu mir gesagt.“ Ich nickte. Ja, das habe ich mal zu ihr gesagt.
„Weiß du, so einfach ist das nicht. Hass und Liebe gehen Hand in Hand. Ich denke, man kann nur hassen, was man liebt … und nein, das Gefühl ist nicht wieder weggegangen. Manchmal scheint es das zu sein, aber dann spüre ich wieder diese Wut und den unbändigen Drang zu gehen und ihn endlich zu verlassen. Ich weiß, dass ich dann glücklicher wäre. Nicht, weil er dann fort ist, sondern weil ich dann endlich wieder ich sein darf. In dieser Wohnung, in unserer gemeinsamen Wohnung, bin ich nur Gast. Das Gefühl zu Hause zu sein, ist gegangen.“
Ich nicke traurig, weil ich mir vorstellen kann, dass das kein schönes Gefühl ist und frage sie, wie es soweit kommen konnte. Wieso ist sie heute so still und verschlossen? Wieso spricht sie so selten über das, was sie quält? Ich erkenne ein kleines, vielleicht sogar verschämtes, Lächeln in ihrem Blick.
„Er suhlt sich in seinen Problemen, weißt du. Es ist kein Tag vergangen, seit wir uns kennen, in denen nicht irgendwas problematisch war. Probleme im Job, Probleme mit der Gesundheit, Probleme im Haushalt, keine Socken im Schrank, mein Akkukabel auf dem Boden …“ Sie holt einmal tief Luft, bevor sie fortfährt. „Ich habe keine Energie mehr für meine Probleme … die steckt in seinen Problemen, ob nun wahre Probleme oder nicht. Wahrscheinlich sollte ich ihm dafür noch dankbar sein. Immerhin kann ich mich so nicht über MEIN Leben beklagen.“ Der Sarkasmus und ihr raues Lachen donnern wie ein Gewittergrollen über uns hinweg.
Eine Weile sehen wir uns schweigend an, dann greife ich nach ihrer Hand, die kalt auf der Tischplatte vor ihr liegt und lächle sie aufmunternd an. Sie seufzt leise. „So lange es wehtut, weiß ich zumindest, dass ich noch lebe.”
Ich schüttle den Kopf. „Nein. So lange es wehtut, weißt du zumindest, dass du ihn noch liebst.“

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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