Tränen

Damit haben wir nicht gerechnet.


Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich keinen Azubi oder generell anderen Menschen kenne, der eine so schnelle Auffassungsgabe besitzt, wie er. Mehr als einmal habe ich gesagt: „Wieso raus geben? Lass das doch unseren Kleinen machen. Gib ihm drei Tage. Der wühlt sich da durch.“ Und ich habe Recht behalten.

Umso schlimmer die Situation, in der der letzte Azubi sein Zeugnis vorne abholen durfte und wir beide immer noch ganz hinten auf dem Tisch sitzen, wie im ersten Moment dieser Veranstaltung. Ohne Zeugnis. Er wird neben mir etwas nervös und auch mein Herzschlag wird schneller. Ich sehe von der Seite, wie er sich bemerkbar machen will, ein leises „Ähhhm …“ lässt mich nach seinen Arm greifen. „Warte bis alle weg sind. Dann klären wir das.“

Mir ist übel und ihm ganz sicher auch. Der Lehrer ganz vorne kramt seine Unterlagen zusammen, dreht sich um, flüstert. Wir beide sitzen da wie erstarrt und verstehen nicht, was hier gerade vor sich geht. Es dauert erneut einige Minuten, bis ich begreife, dass der Lehrer vorne erneut um Applaus bittet. Um einen besonders lauten Applaus. Er erzählt was von Geburtsjahren und Geburtorten und mein Sitznachbar schüttelt den Kopf. Nein, in Köln ist er nicht geboren. Ein Anderer geht nach vorne.

Wir rutschen nervös auf unserer Tischplatte hin und her. Ich reiße meine Kamera hoch, als er vier Minute später doch noch nach vorne gerufen wird. Meine Hände zittern, als hätte ich gerade einen gefährlichen Unfall überlebt. Mein Herz rast. Dann klatsche ich, johle, hüpfe auf der Stelle und falle ihm schließlich um den Hals.

Einen Moment denke ich, dass ich gleich vor Stolz platzen muss. So richtig mit feuchten, zitternden Händen, Bauchkribbeln und aufsteigende Freudentränen zum runter schlucken. Ich habe an Vieles geglaubt und natürlich auch an ihn. Aber ich habe nicht geglaubt, dass er mich so stolz machen würde. Sie werden das vielleicht nicht unbedingt in Gänze nachvollziehen können, aber mein Azubi, beziehungsweise Ex-Azubi, ist mir in seiner Ausbildungszeit sehr ans Herz gewachsen. In den drei Jahren hat sich viel in „unserer kleinen Agentur“ bewegt, unter anderem auch dahin, dass ich seine Ausbilderin wurde.

Die verkniffenen Freudentränen kommen dann einen halbe Stunde später, nachdem ich ihn am Bahnhof Troisdorf abgesetzt habe und mir bewusst wird, dass MEIN allerliebster Lieblingsazubi soeben den zweitbesten Abschluss als Mediengestalter seines Jahrgangs hingelegt hat. Dass ihn nur ein einziger Punkt von der Besten trennt.

Mensch Pjöni, alter Kollege, so wollt ich das sehen!

Mensch Björn, ich bin unsagbar stolz und gratuliere Dir von Herzen. Ich hab dich lieb, kleiner Bärenbruder.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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4 Gedanken zu „Tränen

  1. Ja, das ist schon ein erhebender Moment. Glückwunsch auch von meiner Seite an den Pjöni! Und jetzt mach was draus ;-)

    Und was hat man damals immer zu mir gesagt? „Und fängst Du erst richtig an zu lernen!“

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