„Erzähl doch noch was!“

„Erzähl doch noch was“, sagt sie und ich muss kurz schlucken. Ich wollte eigentlich nur ganz ruhig hier sitzen, meinen Kaffee schlürfen und, ja, vielleicht noch eine Zigarette rauchen. Ich versuche beschäftigt zu wirken, studiere eindringlich meinen Kaffeebecher und was die Dame bei Starbucks darauf gekritzelt hat. Shots: 3. Sirup: C. Milk: %. Drink: 1. Alles wie immer.
Mein Gegenüber scheint mir die Vertiefung in das Phänomen Kaffeebecherbeschriftung nicht abzunehmen, stößt mich unsanft am Arm an und sagt: „He!“

Ja, ja, ich weiß … ich soll noch was erzählen. Weil ich dabei wild mit den Armen gestikuliere, eine tolle Akrobatiknummer mit allen vorhandenen Gesichtsmuskeln hinlege und meine Stimmlage dabei über sämtliche Tonarten jagen lasse. In ihren Augen bin ich wohl so was wie ein Entertainer. Jedenfalls reicht es, um sie für ein paar Minuten zu erheitern. Das ist ja schon mal was.
Ich seufze tief, nippe noch mal an dem Kaffeekunstwerk und verbiege meine Finger, bis es leise knackt. Eigentlich habe ich gerade gar keine Lust, eine spannende oder lustige Geschichte zu erzählen. Eigentlich würde ich ihr viel lieber …

Und dann erzähle ich ihr die Geschichte von der jungen Frau, die so furchtbar zerrissen war. Die das Alleinsein und die Dunkelheit nicht ertragen, aber ebenso wenig Vertrauen und Nähe zu anderen Menschen zulassen konnte. Ich berichte von Tränen, Verzweiflung, Albträumen. Ich spreche leise und versuche besonders rauchig zu klingen, um der Erzählung mehr Tiefe zu verleihen. Ihre großen Augen und der leicht geöffnete Mund verraten mir, dass ich das auch schaffe.

Als ich ende starrt sie mich einen Moment fassungslos an und streicht sich über die Arme, auf denen ich eine dicke Gänsehaut erkennen kann. „Oh mein Gott!“, flüsterte sie fassungslos und ich weiß jetzt schon, wie ihre nächste Frage lautet.
„Wer ist sie und wie heißt sie? Kenn ich sie?“ Ich schüttle den Kopf, nehme einen großzügigen Schluck aus meinem Kaffeebecher.

Natürlich bohrt sie die nächste viertel Stunde nach und versucht herauszufinden, über wen ich gesprochen habe. Ein, zweimal muss ich leise lachen, als sie wirklich haarsträubende Theorien darüber entwickelt, wen oder was ich gemeint haben könnte. Eine halbe Stunde lang geht das so. Mein Kaffee ist inzwischen leer und die letzte Zigarette habe ich vor fünf Minuten im Aschenbecher ausgedrückt.

Als ich aufstehen will, hält sie mich am Arm fest, legt eine neue Packung Kippen auf den Tisch und kramt nach ihrem Portemonnaie. „Ich hol noch was, bleibt ruhig sitzen.“ Es vergehen erneut fünf Minuten, bis sie strahlend an den Tisch zurück kehrt, mir einen sehr großen Becher Kaffee vorsetzt und grinsend flüstert: „Erzähl doch noch was!“

Ich seufze erneut, greife nach dem Kaffeebecher und stehe lächelnd auf. Sie schaut mich ein wenig enttäuscht an, als ich ihr zuzwinkere und versuche, sie mit einem „Nächstes Mal wieder.“ zufrieden zu stellen. Ich greife nach der Mappe, wegen der ich eigentlich gekommen bin. Eine Mappe mit Geschichten, die sie geschrieben hat und die ich lesen soll. Geschichten, die sie aus ihrem Freundeskreis zusammen getragen hat, die sie selber erlebt hat, die sie irgendwo aufgeschnappt hat. Viel zu oft habe ich ihr schon gesagt, sie solle mal ihre eigene Fantasie bemühen, sich selber atemberaubende Geschichten und Figuren auszudenken und diese durch ihr Schreiben zum Leben zu erwecken.

Ich weiß, dass sie nicht verstanden hat, was ich ihr damit sagen will, solange sie mich mit diesem immer wiederkehrenden „Erzähl doch noch was!“ quält.

Heute lasse ich sie schmollend zurück.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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