With you

Wie in Zeitlupe hebt er die Hand und streckt sie nach ihr aus. Sie steht mit dem Rücken zu ihm, keinen halben Meter vor ihm, im dichten Gedränge, und springt im Rhythmus der donnernden Drums auf und ab. Eine E-Gitarren setzt ein und augenblicklich beginnen die Menschen um ihn herum zu schreien und der Boden unter seinen Füßen zu beben. Alle wissen was den Gitarren folgt und normalerweise hätte er sich von der extatischen Hysterie anstecken lassen. Immerhin ging er genau für diese Momente auf solche Konzerte: die unbändige Freude, dieses losgelöste Gefühl und die Verbundenheit, die man zu den anderen Konzertbesuchern empfand. Es war einzigartig.

Doch schon am Eingang hatte er sie gesehen, in einer der langen Schlangen, die auf den Einlass warteten: Maike, seine erste große Liebe. Die Frau, von der er mit fünfzehn geglaubt hatte sie einmal zu heiraten, mit ihr zwei Kinder in die Welt zu setzen, in einem kleinen, freistehenden Haus mit weißem Zaun zu leben. Mit ihr hatte er sein erstes Mal in jeder Beziehung. Das erste Mal verliebt. Das erste Mal richtig Küssen. Das erste Mal betrunken sein. Das erste Mal bekifft sein. Das erste Mal Sex. Das erste Mal Liebeskummer. Das erste Mal Verlassen werden.

Sie hatte ihn für Peter, drei Jahre älter und in jeder Hinsicht erfahrener als er es mit fünfzehn hätte sein können, verlassen. So richtig hatte er das nie überwunden. Die erste Liebe schmerzt eben am meisten. Und wie er nun feststellen musste: selbst fünfzehn Jahre später konnte allein die Erinnerung wahnsinnig wehtun. Am liebsten wäre er hingegangen, hätte sie zur Rede gestellt. Aber was hätte er sagen sollen? Würde sie sich überhaupt an ihn erinnern? Würde sie ihn erkennen, sofern sie sich noch erinnerte? Was hätte er sagen sollen? Wie sehr er damals in sie verliebt gewesen war? Wie sehr ihn die Trennung verletzte hatte? Das er heute noch manchmal an sie dachte? Würde sie es nicht für absolut lächerlich halten, wenn er ihr heute, fünfzehn Jahre später, erklären würde, wie viel sie ihm damals bedeutet hatte?

Das ganze Konzert über stand er hinter ihr, keinen halben Meter. Er erfreut sich an ihrer Euphorie, ihrer Energie und an manchen Stellen auch an ihrer Stimme, die alle Umstehenden von Zeit zu Zeit übertönte. Sie hatte damals schon gerne gesungen und er hatte ihr schon damals gerne zugehört. Dann sah sie über die Schulter, zu ihm. Ein, zwei Sekunden lang trafen sich ihre Blicke, sie lächelte, dann schaute sie wieder hoch zur Bühne. Sie hatte ihn nicht erkannt. Wahrscheinlich erinnerte sie sich nicht einmal.

The sound of your voice
Painted on my memories
Even if you´re not with me

Noch vor der Zugabe ging er nach Hause. Ohne mit Maike zu sprechen. Ohne auf sich aufmerksam zu machen. So, als wäre er nie dagewesen. So, als wäre er irgendein Fremder in der Masse gewesen, dem sie zufällig ein Lächeln geschenkt hatte.

Zwei Wochen später erhielt er über eins dieser unzähligen Netzwerkportale eine Nachricht. Er erkannte das Foto noch bevor er die Nachricht geöffnet hatte. Eine Nachricht von Maike. Sie hieß jetzt Schültgen und nicht mehr Mayer. „Mit Y!“. Sie hatte immer gelacht und sich selber Hasenohren gezeigt, wenn sie das sagte.

Hallo Kai. Eigentlich weiß ich nicht recht, was ich schreiben soll. Ich hab in Deinem Profil ein Zitat gelesen. Das von Linkin Park. Ich bin erst vor ein paar Tagen auf einem Konzert von ihnen gewesen. Jedenfalls dachte ich, dass ich mich mal melden könnte um zu hören, wie es Dir geht? …

Sie trafen sich nur wenige Tage später. Maike erzählte ihm, dass sie in Scheidung lebte, dass sie Event Managerin bei einem Konzertveranstalter sei und dass sie einen zweijährigen Sohn namens Kai habe.

Der erste Kuss nach fünfzehn Jahren folgte einen Monat später.
Kai sagt, er sei besser gewesen, als der Erste. Er sagt, es sei der beste Kuss seines Lebens gewesen.

[ Real. Nach Erzählung. ]

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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16 Gedanken zu „With you

  1. WunderWunderSchön. Ich liebe einfach alle deine Geschichten, weil ich mich so wunderbar herrlich darin verlieren kann :) Liebsten Dank :)) und viele Grüße :)

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