tiefer geht nicht.

Ich erzähle Ihnen heute mal eine Geschichte. Basierend auf einer wahren Begebenheit. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind daher wohl nicht ganz zufällig. 

***

Ich liege mit dem Gesicht auf dem dreckigen Fußboden eines Supermarkts. Um genau zu sein in der Gemüseabteilung, vor der Auslage der Tomaten. Ich sehe Füße, viele Füße, die stehen bleiben, kurz verweilen, dann langsam weiter gehen. Unter der Auslage erspähe ich 2 matschige Tomaten, die wohl schon vor einer Weile heruntergefallen sind. In meinen Ohren klingelt es.

Ich schließe kurz die Augen, hole tief Luft und lächle Maximilian an, der keinen halben Meter von mir entfernt liegt, die Augen zusammengekniffen hat und schreit. Sehr laut schreit. Maxi ist 2. Na gut, fast 3. Und er liebt Tomaten. Leider hat er das mit dem „Wir müssen die erst bezahlen“ noch nicht so akzeptiert, wie ich mir das wünschen würde. Dann läge ich nämlich jetzt ganz sicher nicht hier, auf dem Fußboden und würde mich vor Dutzenden Leuten zum Horst machen. Dann würde ich mein lächelndes, freundliches und umgängliches Kind im Einkaufswagen sitzend durch den Supermarkt schieben und meine Einkaufsliste zügig und entspannt abarbeiten. Ich lache. Ja, so stellt man sich das wohl vor, wenn man noch keine Kinder hat.

Maxi ist durch mein Lachen kurz von seinem Wutgebrüll abgelenkt und reißt die Augen auf. Erst jetzt erkennt er, dass ich neben ihm liege und nicht, wie er vermutlich glaubte, neben ihm stehe und genervt mit dem Fuß wippe.

„Mama, steh auf!“ Alexander, mein großer Sohn, zieht an der Kapuze meiner Sweatshirtjacke und schickt ein halblautes „Bitte!“ hinterher. Auch mit 4 Jahren kann man sich schon ganz wunderbar für seine Eltern schämen. Ich wäge kurz ab, was ich besser verkraften kann. Das Wutgebrüll des Kleinen oder die Tatsache, dass der Große sich für mich schämt. Ich nehme letztes in Kauf.

Von der Einmischung seines Bruders aus der Verwunderung über meine Position gerissen, beginnt Maxi erneut zu schreien. „Ich will Tomatäää!“ Mit drei Ä. Mindestens.

Ich seufze. „In Ordnung. Du bekommst ganz viele Tomaten. Versprochen. Aber lass uns erst noch kurz zur Wursttheke gehen, ja?“ Nein, wir brauchen nichts von der Wursttheke. Aber nach 4 Jahren des Mutterseins habe ich zumindest eine leise Ahnung davon, was im Kopf eines 2jährigen vor sich geht. Und Wursttheke ist quasi nur ein Synonym für „Mag der Kleine eine Scheibe Wurst?“

Maxi verstummt, sieht mich mit Tränen gefüllten Augen an, grinst und rappelt sich auf. Ich schließe kurz die Augen, seufze und drücke mich vom Boden hoch. Meine Hände kleben und ich wische sie kurz an meiner Hose, die ohnehin schon mit Joghurt-Fingerabdrücken des Kleinen verziert ist, ab. So groß war seine Freude heute, als ich ihn früher als sonst vom Kindergarten abholte und ihn beim Nachmittagsnack – Erdbeerjoghurt – überraschte.

Alex seufzt erleichtert darüber, dass ich endlich wieder auf meinen Füßen stehe und die umstehenden Leute ihre Blicke wieder von uns abwenden und sich ihren Einkäufen widmen.

„Mama, kohomm. Ich mag Wurscht!“ Maxi zerrt am Einkaufswagen, der schwungvoll seinem Zug folgt und in die Auslage mit den Paprikas donnert. Alex schreit entsetzt auf: „Maxi!!!“ Mit einer Hand greife ich nach dem Schieber des Einkaufswagens, um ihn festzuhalten. Mit der anderen klaube ich die herunter gepurzelten Paprikas wieder auf und lege sie zurück in die Auslage.

Mir bleibt nichts anders übrig, als zu ermahnen. „Maxi, macht nicht so wild. Der Wagen könnte umkippen und Anna  würde sich böse wehtun.“ Doch Maxi ist schon vorgelaufen, Richtung Wursttheke. Alex greift nach dem Gitter des Einkaufswagen und geht Mustergültig neben dem Wagen her, den ich nun Richtung Wursttheke schiebe.

Mit einer Hand schiebe ich den Wagen, mit der anderen fummel ich ein bereits benutztes Taschentuch aus meiner Hosentasche und wische Anni, meiner 1jährigen Tochter, den Rotz, der wie zwei kleine Zapfen aus ihrer Nase hängt, aus dem Gesicht. Anni lacht. Anni lacht eigentlich immer. Ich lächle sie glücklich an und frage mich heimlich, wie das wohl sein wird, wenn sie die 2jährige ist. Wo ich dann auf Fußböden liegen und welche Waffen ich auffahren werden muss, um ihren kleinen große Willen zu überstehen.

Mit Alexander war das alles ein wenig anders. Er war zwar auch sehr ausdrucksstark, aber seine Nervenzusammenbrüche ob jeglicher Verbote oder „nicht haben könnens“ beschränkten sich auf unser heimisches Wohnzimmer. Gerne auch den Flur. In der Öffentlichkeit war er immer viel zu abgelenkt und angespannt, um sich in wütendem Gebrüll zu verlieren. Ich mustere ihn von der Seite, meinen großen Jungen und streiche ihm übers Haar, als ich lautes Geschrei und ein sich wiederholendes Donnern höre.

Maxi hat die Wursttheke erreicht. „Hallo! Frahau! Ich will Wurscht!“ Ich sehe aus ein paar Metern Entfernung, wie er mit den flachen Händen immer und immer wieder gegen die Glasscheibe der Wursttheke donnert und so lautstark versucht auf sich aufmerksam zu machen.

Ich überlege kurzfristig Geschwindigkeit aufzunehmen und ihn von der Wursttheke wegzuzerren. Stattdessen fahre ich langsam auf die Wursttheke zu, gucke pikiert, schüttle verständnislos den Kopf und fahre dann einfach weiter, an ihm vorbei. So, als würde ich ihn gar nicht kennen.

Alex sieht mich verwundert an, aber ich schüttel nur kaum merklich den Kopf und grinse ihn an. Hinter uns schreit Maxi immer noch nach der Wurst.

Dann wird es plötzlich still, aber ich traue mich nicht, mich umzudrehen, wende mich stattdessen dem Regal neben mir  zu und starre hochkonzentriert in die Auslage. Tatsächlich habe ich keine Ahnung, ob ich gerade Käse, Wurst oder Fisch angaffe. Mit den Augen am Hinterkopf, die ja bekanntlich alle Mütter haben, versuche ich zu erkennen, ob sie Maxi jetzt geknebelt oder direkt mit in die Wursttheke gestopft haben. Als plötzlich eine kleine fettige Hand meine greift und sanft meine Finger umschließt. Ich sehe an mir herunter. Etwa auf Höhe meiner Hüfte taucht das breite Grinsen meines 2jährigen auf, der mit vollen Backen Wurst mampft. Seine Augen strahlen vor Zufriedenheit und ich denke nur: „Herrjeh, ich hab so tolle Kinder!“

„Mama, ich will auch Wurst!“quengelt  es plötzlich neben mir und mit einem kurzen Schulterblick erkenne ich, dass die gesamte Wurstfachverkäuferschaft mich anstarrt. Gut. Ich habe schon auf dem Fußboden der Gemüseabteilung gelegen. Tiefer geht nicht. Also drehe ich um und schiebe zurück zur Wursttheke.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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18 Gedanken zu „tiefer geht nicht.

  1. So eine Lektüre hätte ich gern in der nächsten Eltern-Zeitschrift. :)
    Mehr hiervon, als von unzähligen sich wiederholenden Werbungsaufschriften und anderen ausgelutschten Ratgebern.

    Danke

    Lg Stephie

  2. :D..danke dafür. You made my day!

    Eine Freundin von mir arbeitet auch an der Wursttheke und gibt Kindern, die so nach Wurst schreien tatsächlich nichts ;-)…. Ist glaub ich aber eher selten. Meistens will man die Kids doch dann schnell loswerden.

  3. Ja, so ist es. So oder so ähnlich oder anders schrecklich. Das kann einem übrigens auch noch mit einer „sehr willensstarken“ 4-Jährigen passieren. Ich muss übrigens gleich einkaufen, den kompletten Kühlschrank nach den Ferien füllen. Mit zwei kleinen Kindern. Eine Runde Daumendrücken und Stossgebete.

    Viele Grüsse, Christine

  4. Daaaaanke für diese Geschichte…mit meinen 3en ist es exakt genauso…beim nächsten Einkauf werde ich an diese Geschichte denken und mit wuuusssaaaa in den Ohren elfengleich durch den Supermarkt schweben :-))))

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