Mit Hochsensibilität leben.

Nachdem ich vor zwei Tagen noch mal das Thema Hochsensibilität erwähnte, habe ich wieder massig E-Mails von Ihnen erhalten. Ich möchte daher gerne nochmal klarstellen, dass ich zwar selber hochsensibel bin und 2 hochsensible Kinder habe, aber natürlich kein Fachmann oder Experte auf dem Gebiet bin. Was ich über Hochsensibilität weiß, habe ich mir angelesen oder weiß es aus Gesprächen mit Ärzten.

Eine Frage, die in verschiedener Form immer widerkehrt, ist die, ob Verhalten XYZ auf Hochsensibilität schließen lässt. Die Antwort ist ganz einfach: Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Es ist wie mit vielen Dingen im Leben und mit dem Mensch-sein an sich: wir sind alle Individuen, die anders denken, agieren und funktionieren. Ich versuche das mal an ein paar Beispielen darzustellen. Eine gute Situation, die verdeutlicht was ich ausdrücken will, erlebte ich heute beim Frisör:

Die Azubine meines Frisörs wusch mir die Farbe aus den Haaren. Dabei fragte sie genau einmal, ob die Temperatur so angenehm sein, was ich bejahte. Im Anschluss wechselte die Temperatur allerdings ständig zwischen zu heiß und eiskalt hin und her. Ich biss die Zähne zusammen und sagte genau nix. Warum? Weil ich Sorge trug, dass ich sie mit sich ständig wiederholender Kritik verletze könnte. Das ist ein bisschen Banane, weil eigentlich müsste ich ihr diesen Hinweis geben, damit sie lernen kann. Immerhin ist sie ja in der Ausbildung. Das ist dieses Empathie-Ding, das manchmal wie ein Fluch auf mir lastet.

Eine andere, ebenso HSP-typische, Reaktion hätte auch sein können, dass man sehr empfindlich reagiert und viel und schnell jammert, kritisiert, sich vielleicht sogar beschwert. Das kommt dann halt auch immer so ein bisschen auf die Grundstruktur der betroffenen Person an.

Es gibt also die HSP, die überwiegend durch ihre eigene Empathie geleitet und manchmal halt auch blockiert werden. Und die HSP, die von den eigenen Empfindungen geleitet und blockiert werden. Und dann gibt es natürlich noch solche, bei denen mal das eine, mal das andere stärker dominiert.

Auch kann man nicht sagen, dass jemand eine HSP ist, nur weil er so oder so handelt. Vielmehr kann man halt durch die Erkenntnis HSP zu sein, sein eigenes Verhalten besser reflektieren und verstehen.

Ein charakteristisches Merkmal für eine hochsensible Person ist es zum Beispiel ein extrem gutes Langzeitgedächtnis, auch schon in frühster Kindheit. So kann der Quietschbeu mir zum Beispiel explizite Details aus unserem Strandurlaub 2011 erzählen. Da war er noch keine 2 Jahre alt. All seine Erinnerungen haben mit Gefühlen oder starken Emotionen zu tun. Und so geht es mir auch.

Eine meiner frühsten Kindheitserinnerungen ist zum Beispiel, wie mein 13 Jahre ältere Bruder eine Freundin zu Besuch hatte. Ich selber war 2 oder 3 Jahre alt. Irgendwie lag eine ganz komische Stimmung in der Luft. Ich glaube, es gab Streit zwischen meinen Eltern und meinem Bruder wegen des Mädchens. Jedenfalls hatte meine Mutter Kirschen gekauft und gewaschen. Ich lief zwischen der Küche, wo meine Eltern und meine Schwester waren, und dem Zimmer meines Bruders, wo er mit seiner Freundin auf dem Bett saß, hin und her und verteilte einzelne Kirschen. Dann machte ich eine erneute Runde, um die Kirschkerne wieder einzusammeln. Als ich zu Nora – ich meine sie hieß so – kam, schüttelte sie nur schweigend den Kopf, saß mich mit so einem komischen „traurigen“ Blick an und machte den Mund auf. Sie hatte den Kirschkern wirklich zerbissen und gekaut.

Und alles was ich in dem Moment denken konnte war: „Oh Gott, wieso hat sie so dolle Angst aufzustehen, um den Kirschkern in den Mülleimer (in der Küche) zu entsorgen? Es muss wirklich was Schlimmes los sein.“ Wie gesagt, ich war vielleicht gerade 3. Die Möglichkeit, dass sie den Kern vielleicht versehentlich zerbissen hatte oder vielleicht zuvor noch nie ne Kirsche gegessen hatte und nicht wusste, dass man den Kern nicht mitessen kann (ja, so Menschen soll‘s ja auch geben), kam mir nicht in den Sinn. Mich beschäftigte diese Angst, die ich bei ihr wahrgenommen hatte, sehr lange. Noch heute spüre ich, was ich damals gefühlt habe, wenn ich mich erinnere.

Was die Unterschiede zwischen verschiedenen HSP-Typen angeht, so habe ich hier gleich zwei Musterexemplare. Während der Quietschbeu zuhause sehr extrovertiert ist und in fremder Umgebung eher  introvertiert wirkt, ist es beim Löwenmaul ganz anders. Dem Löwenmaul fallen soziale Interaktionen sehr leicht. Er ist beliebt und hat ganz viele Freundschaften, nicht aber den einen Freund, wie ihn der Quietschbeu hat, der wiederum sonst keine großen Freundschaften hegt. Beide Jungs sind über die Maße empathisch, einfühlsam und behutsam im Umgang mit anderen Menschen. Also auf der emotionalen Ebene. Natürlich sind sie auch kleine Raufbolde, Schreien, Kreischen, Kämpfen. Nicht das hier ein falsches Bild entsteht. Höhö.

Beide haben diese unsägliche Abneigung gegen Feuchtigkeit auf der Haut. Tränen, Rotz, ein nasses Hemd. Dann geht gar nichts mehr, nicht mal zuhören. Das muss dann sofort beseitigt werden. Sonst verfallen sie in richtige, echte Hysterie. Beim Löwenmäulchen ist das besonders stark ausgeprägt. Sie erinnern sich vielleicht an meine zahlreichen Berichte zum „Trotzmäulchen“, das scheinbar alle Ausdauer- und Beharrlichkeitsrekorde brechen wollte. Mit Sicherheit trage auch ich mein Päckchen dazu bei. Mein Fokus war immer viel zu sehr auf den Quietschbeu und seine Hochsensibilität gerichtet, als das ich hätte frühzeitig erkennen können, dass das Löwenmäulchen in vielerlei Hinsicht sogar noch deutlich sensibler ist, als sein Bruder. Er kompensiert nur anders, vermutlich auch dadurch, dass er sehr intensiv körperliche Nähe sucht und annehmen kann.

In den vergangenen Monaten habe ich viele Reaktionsmöglichkeiten auf das Verhalten der Jungs testen können und den für uns besten Weg gefunden. Beim Quietschbeu sind es andere Dinge, die ihn wieder zu sich bringen, als beim Löwenmaul. Der Quietschbeu braucht ein absolut ruhiges und verständnisvolles Gegenüber, das ihm auf Augenhöhe begegnet. Das Löwenmaul benötigt wiederum jemanden, der ihn einfach in – besser noch auf – den Arm nimmt, der ihn hochhebt, trägt und ganz klein und schwach sein lässt. Dann kann er sich binnen weniger Augenblicke wieder fangen, aufrichten und stark sein.

Es ist so vielfältig, dieses Thema. Ich könnte vermutlich Stundelang Beispiele aufführen. Und doch wären es nur kleine Facetten unseres Lebens und keine allgemeingültigen Merkmale.

Wenn Sie mich also fragen, ob Sie  oder Ihr Kind hochsensible sind, weil sie dieses oder jenes fühlen, denken, tun, dann kann ich Ihnen das nicht beantworten. Aber es gibt wirklich gute Lektüre zum Thema:

  1. Sind Sie hochsensibel? – Dr. Elaine N. Aron
  2. Das hochsensible Kind –  Dr. Elaine N. Aron
  3. Hochsensible Mütter – Brigitte Schorr
  4. Leben mit Hochsensibilität – Susan Marletta-Hart

Ein guter Einstieg in das Thema – bevor Sie viel Geld für Fachliteratur ausgeben – ist die Webseite zartbesaitet.net.

Seit wir um unsere Hochsensibilität wissen, geht es uns allen sehr viel besser. Rein statistisch ist es übrigens sehr wahrscheinlich, dass auch das Meedchen hochsensible ist. Hochsensibilität wird vererbt. Und bei zwei hochsensiblen Elternteilen … nun denn.

Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir hier den Raum lassen, um über dieses Thema zu schreiben. Ebenso wie ich Ihnen im Vorfeld für alle verletzenden, deskreditierenden und Grenzüberschreitenden Kommentare danke, die Sie nicht geschrieben haben. Sie versteh‘n. Chrchr.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
Beitrag erstellt 4659

17 Gedanken zu „Mit Hochsensibilität leben.

  1. Liebe Pia,

    ich danke Dir so sehr für diesen Artikel. Ich war mir nie bewusst, dass es so etwas wie Hochsensibilität gibt. In meine Bewertungen der 1. und 2. Klasse (83er Jahrgang) wurde mir damals geschrieben ich würde Probleme zu sehr mit Tränen lösen und meine Eltern haben mich gerne als „zart besaitet“ beschreiben. Mein Freund sagt gerne, dass ich mit Veränderungen ja extreme Probleme habe und überhaupt weiss meine Umwelt, dass ich mich gerne (zu sehr) in andere herein versetzte und überhaupt extrem Harmoniebedürftig bin.

    Bisher habe ich das gerne auf mein Sternzeichen (Fische) geschoben, aber jetzt weiss ich, dass es auch etwas anderes sein kann. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt und dieses „sich zurück ziehen und Zeit für mich brauchen, auch gerne mal ein Stündchen im Bett“ kenne ich nur zu gut.

    Danke für diese Aufklärung, und ich werde mich jetzt mal weiter über das Thema belesen. Den Eltern hab ich die oben genannte Seite auch direkt mal im Link geschickt (mein Herzproblem wollten sie 20 Jahre nämlich auch nicht wahr haben und letztes Jahr im Oktober wurde ich dann schliesslich operiert – ha).

    Liebste Grüsse aus Kopenhagen (der trotzdem im Herzen immer Bonnerin bleiben wird)
    Sarah

  2. Hey

    Ich war damals einer der damen die dir sagten dein sohnemann ist ein hsp.
    Ich bin auch ein hsp aber volle kanne.
    Meine tochter gleicht mir sehr sehr sehr stark.
    Es ist eine gabe…..aber auch ein fluch , ich habe vieeele jahre gelitten weil niemand so fühlte wie ich und ich dachte etwas sei kaputt bei mir

  3. Danke fürs immer wieder drüber schreiben. Ein spannendes Thema. Oft finde ich mich da wieder, dann auch wieder nicht. Will sagen, vielleicht bin ich hochsensibel, vielleicht auch nicht ;-).

    Wie auch immer, es tut gut, zu lesen, wenn andere Menschen Situationen genauso erleben wie man selbst. Das entlastet. Gestern las ich auch einen interessanten Artikel zum Thema. Ich stell einfach mal den Link hier ein http://mymonk.de/hochsensible-menschen/.

  4. Ich muss dir auch für diesen Artikel danken und den Link. Natürlich hab ich direkt den Test gemacht… Ohje – auch wenn der natürlich keine Diagnose beim Arzt ersetzen kann.

    Bisher dachte ich immer, ich wäre „halt einfach ein Weichei/eine Heulsuse“. Jetzt hat das Kind wenigstens einen Namen und ich kann es angehen. Danke dafür!

    LG, Rapunzel

  5. ich weiss grad nicht wo ichs sonst schreiben soll, aber irgendwie passts auch ganz gut hier her.
    bin grad am überlegen ob ich meinen großen 2015 einschulen soll- er wird dann mitte november 6- er ist auch sehr sensibel- wie ich auch :-) und das ist einer der gründe warum ich noch am überlegen bin- ausserdem weiss ich nicht wirklich ob man von dem großen das verlangen kann- eben nur weil er der große von 3 jungs ist.
    anderer seits ist er sehr weit und kann auch echt schon viel für sein alter! kommt dein quietschbeu 2015 in die schule- ja oder!? wie siehst du das mit dem früher einschulen?

    1. Hi Agnes,

      wir hatten das Thema auch jüngst. Unser Kinderarzt legte uns eine vorzeitige Einschulung nahe. Wir nehmen davon aber Abstand, weil a) der Quietschbeu noch gar nicht in die Schule möchte und b) mein Bauchgefühl auch sagt, dass er noch so lang wie möglich „Kind sein“ soll. Eben auf Grund seiner Hochsensibilität. So hat er noch ein Jahr länger Zeit für sich ein Ventil und die Möglichkeit der Kanalisierung der vielen Eindrücke zu finden.

  6. Liebe Miez,

    Ich möchte mich an dieser Stelle einfach nur bedanken. Auch ich bin HSP und Mutter und durch Sie (unter anderem) darauf gekommen. Wie Sie schon schreiben, macht das reine Wissen um die Hochsensibilität das Leben um einiges einfacher. Vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen hier mit uns teilen.

  7. Liebe Mamamiez,

    ich habe schon die anderen Blogeinträge zum Thema Hochsensibilität gelesen und auch schon die empfohlene Internetseite besucht.

    Ich denke es ist wirklich schwierig zu sagen „ja das bin ich“ – gerade mir fällt das schwer, denn ich möchte nicht als Hypochonder da stehen. Und doch erkenne ich mich in vielen der auf der Internetseite beschriebenen Seite wieder und wenn ich diesen Artikel hier wieder lese muss ich so oft denken „könnte ich sein“ (Beispiel: Frisör etc.)

    Dann mache ich mir natürlich auch meine Gedanken über meine Tochter. Denn auch da erkenne ich viele Verhaltensmuster wieder. Beispiel: Trotz, Ausdauer, Beharrlichkeit – gerade momentan haben wir eine extreme Phase des „NEIN“ sagens wenn es nur darum geht Mama, Papa oder den Großeltern „tschüss“ zu sagen. Oder wenn bei den Zeilen, dass nasse Sachen nicht auf der Haut ertragen werden. Unsre Kleine macht einen schier verrückt, wenn nur beim Trinken ein paar Tropfen auf dem Shirt landen. Mit Mühe und Not lässt sie die Sachen an, wenn man ihr 20mal erklärt, das es warm genug sei und das Shirt gar nicht so nass. Ich könnte noch ettliches aufzählen.

    Und doch überlege ich dann ob das nicht normale Entwicklungsdinger sind (Nein sagen) oder das von uns anerzogene („du hast dich nass geschüttet – komm umziehen, sonst wirst Du krank)- Ding ist.

    Der Gedanke sowas beim Kinderarzt anzusprechen, wieder ein Zwiespalt – ich werde es nicht ansprechen, weil ich nicht als Überbetütelndehypochonder-Mama dastehen will. Habe dann gleichzeitigt aber ein schlechtes Gewissen, weil ich vielleicht etwas nicht geklärt habe, was uns allen das Miteinander umgehen und verstehen erleichtern würde.

    Das Leben ist nicht leicht und Entscheidungen zu treffen auch nicht.

    Ich danke aber für solche offenen und vor allem privaten Blogbeiträge – sie regen zum Denken und Selbstreflektieren an. Und wer weiß, vielleicht helfen sie doch im Umgang .. nein nicht vielleicht, sie helfen MIR oft im Umgang mit meiner Kleinen.

    DANKE :-)

  8. liebe mamamiez,

    wahrscheinlich wissen sie es, jedoch da hat der inhaber der von ihnen genannten website ein buch geschrieben, das würde ich auch noch gerne empfehlen. „zart besaitet: selbstverständnis, selbstachtung und selbsthilfe für hochempfindliche menschen von parlow, georg.

    viele grüsse thorrah

  9. Liebe Mamamiez,
    Danke für diesen Beitrag.
    Ich habe mich hier oft wieder gefunden und bin aus Neugierde auf die empfohlene Internetseite gegangen – und habe natürlich auch den Test gemacht. Und siehe da! Das erklärt mir so einiges.
    Ich werde jetzt weiter in das Thema einsteigen und recherchieren.
    Danke für die offenen und sehr persönlichen Worte.
    Gruß
    Jenny

  10. Ein schöner Beitrag mit Einblicken in die hochsensible Welt der Hochsensibilität. Es zeigt auch mit auf, dass es wichtig ist, wie gerade Menschen in jungen Jahren, mit ihren Welt und Umwelt konfrontiert werden und wie mit ihnen umgegangen wird, prägt ungemein die eigene Sensibilität.

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