[.txt] – 01 – Gratwanderung

Als Mutter habe ich oft das Gefühl, mein ganzer Alltag mit Kindern ist eine Gratwanderung. Manchmal reicht schon ein falscher Blick, ein falsches Wort und die kleine heile Welt meines Kindes gerät ins Wanken. Ihr Blickwinkel auf die Welt ist tatsächlich noch schwarz und weiß, gut und böse, laut und leise, „voll lecker!“ und  „mag ich nich‘!

Das Dazwischen lernen sie erst mit den Zeit und den Jahren greifen: Sich selber zu regulieren, eigenen Wünschen nicht sofort nachzugeben, geduldig sein, Kompromisse eingehen, Empathie.

Mit dem eigenen Willen eines Kleinkindes, von sagen wir mal 2 Jahren, so umzugehen, dass es nicht einmal in Tränen ausbricht und verzweifelt weint, halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit.

„Was möchtest Du trinken?“
„Kakao!“
„Heute trinken wir keinen Kakao mehr. Du kannst aber gerne morgen zum Frühstück Kakao trinken.“
„Raaaaabäääääähhhhhh!“

Mit der Zeit habe ich gelernt meine Fragen anders zu stellen.

„Möchtest Du Milch oder Wasser trinken?“
„Milch.“

Die Möglichkeit der freien Wahl im Vorfeld schon einzugrenzen hat mir so manches Tränenmeer erspart. Tatsächlich fragt der Große dann inzwischen schon mal: „Kann ich auch Kakao haben?„, akzeptiert dann aber auch ein Nein.

Es gibt diese Phasen, in denen ist ihnen nichts recht. Falsche Socken, falsches Shirt, falsche Schuhe, falsche Brotdoseninhalt, falsche Reihenfolge beim Ein- oder Aussteigen aus dem Auto. Gerne auch mal nach vorherigen Absprache, welche Socken, welches Shirt, welche Schuhe oder welcher Brotdoseninhalt denn genehm wären. Eigentlich kann man in solchen Phasen schon gar nicht mehr von Gratwanderung sprechen. Am besten stürzt man sich einfach direkt in den Abgrund und genießt den Moment, in dem einen der Wind um die Nase weht.

Die größte Gratwanderung für mich jedoch ist und bleibt, allen drei Kindern gleichermaßen gerecht zu werden und fair zu bleiben. Wenn der Große mal wieder mit Vollgas 3 neue Dinge gleichzeitig lernt, wir dies thematisieren und ihm sagen, wie toll wir das finden, dann bekommt der Mittlere das sehr wohl mit, vergleicht sich mit dem Bruder, der ja nur ein Jahr älter ist. Er kann noch keine Schleife binden, erkennt nur wenige Buchstaben und Fahrrad kann er auf Grund seiner geringen Beinlänge auch noch nicht fahren. Es ist ihm dann auch leider herzlich egal, dass er andere Dinge (besser) kann, als sein Bruder. Zum Beispiel malt er mit einer faszinierenden Akribie Bilder aus und dabei nie über den Rand. Er konnte von heute auf morgen Laufrad fahren, wofür sein Bruder wiederum ein Jahr und viele Ängste überwinden musste. Er kann zuhören, wie kein anderer und jede ihm erzählte Geschichte bis ins kleinste Detail wiedergeben.

Aber unterm Strich sieht er in dem Moment, indem wir seinen großen Bruder für etwas loben, nur das, was er eben  noch nicht kann.

Wenn man zum einen Kind im Beisein der Geschwister etwas sagt, muss man sich immer bewusst sein, dass die anderen Beiden das auch hören und verstehen. Besonders in der Phase, in der sie noch ausschließlich um sich selber kreisen und ihren eigenen kleinen Mittelpunkt darstellen, können solche Unterhaltungen richtige Fußangeln für die Eltern sein.

Ein anderes Beispiel sind Streitigkeiten. Es hat eine Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass nicht immer der, der am lautesten heult, das Opfer ist. Insbesondere seit wir die Kleine haben, musste ich da viel umdenken.

Ein praktische Beispiel vom vergangenen Montag: Sie heult und schreit plötzlich, ich stürze in den Raum und frage als erstes, was passiert ist. Sie heult lauter, deutet auf ihren großen Bruder und schreit: „Bruda hat mir wehgetan!!!

Ich sehe ihn fragend an und er gibt kleinlaut zu, dass er ihr ein Plastikschüsselchen an den Kopf geworfen hat. Während ich mich in einem Aggregatzustand irgendwie zwischen WHATTHEFUCK und Ohgottohgott befinde, wirft der Mittlere ein: „Aber die Mathi hat zuerst geworfen. Der Bruder hat nur zurück geworfen!

Ganz oft ist eben der, der am lautesten heult, der Ursprung des Streites. Und ganz oft ist auch nicht die Kleinste im Raum das Opfer, sondern vielmehr Unruhestifter. Doch im Moment des Geheule und Geschreie zu erkennen, was genau vorgefallen ist, wer jetzt warum heult und wie man das Ganze wieder einfängt, das ist eine einzige Gratwanderung.

Kleine Kinder sind wie Basilikum-Töpfe. Ein falscher Luftzug und zack, lassen sie alle Blätter hängen. Das geht manchmal so schnell und unbemerkt, dass man gar nicht immer und auf alle Eventualitäten eingestellt sein kann.

Darum ist und bleibt meine tägliche Gratwanderung  der mir bestmöglichste Umgang mit meinen Kindern.

.txt ist ein Projekt von Dominik Leitner. Alle 3 Wochen wirft er ein neues Wort in den Raum, zu dem wir Mitwirkenden dann einen freien Text, ein Gedicht, eine Geschichte verfassen und auf unsern Blogs vorstellen dürfen. Alle Beiträge werden auch hier gesammelt. Das erste Wort lautet Gratwanderung.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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6 Gedanken zu „[.txt] – 01 – Gratwanderung

  1. Danke. Für deinen Artikel. Heute ist meine härteste Gradwanderung und dank dir werde ich mich mit Freude gleich bei nächster Gelegenheit den Berg unterstützen. Den Aufprall fürchten, aber beim fliegen lächeln und wissen, ich bin nicht allein.
    Danke

  2. > “Was möchtest Du trinken?” – “Kakao!”

    Ich erinnere mich, wie mir meine Eltern mal sagten, ich dürfe mir jetzt ein Playmobilmännchen aussuchen und sie dann die Zusage „brachen“. Ich wollte nämlich den Sheriff, aber den wollten mir meine Eltern nicht kaufen. Wegen der kleinen Pistole. Ja, so war das in den 70ern.

    Gut, dass es damals kein „Games of Thrones“ im TV gab, denn sonst hätte es auch keine Ritter mehr gegeben. Die haben ja Schwerter!1!! ;-)

    Hätten die mal eine geschickt „lenkende Vorgabe“ gemacht, dann hätte es kein Geschrei gegeben.

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