Das hat er nicht von mir!

Heute war ich beim Ergotherapeuten des Quietschbeus. Wir wollten kurz besprechen, wie es weiter geht, ob die Ergotherapie irgendetwas bewirkt und ob es Sinn macht, weitere Stunden zu vereinbaren. Tja, ganz so einfach ließen sich diese Fragen leider nicht beantworten, was sich aber wieder binnen weniger Augenblicke herausstellte: der Ergotherapeut schätzt den Großen genauso ein, wie ich es tue, bestätigt mein Bild und meine Wahrnehmung von ihm und machte sich ernsthafte Gedanken darum, ob und wie er ihm helfen kann.

Auf meine Frage, ob weitere Stunden in seinen Augen nötig wären, antwortete er, dass der Quietschbeu nichts hätte, was man therapieren müsse. Und in Ergotherapie stecke ja ganz klar das Wort „Therapie“. Seine Sorge sei eher, dass dem Quietschbeu die Ergotherapie das Gefühl gebe, er habe einen Makel oder sei irgendwie „fehlerhaft“. Denn das ist er ganz und gar nicht. Ja, er ist deutlich anders, als andere Kinder. Ja, er hat viel feinere Antennen und ist deutlich empfindsamer, aber das seien ja kein Makel, sondern ein Geschenk, mit dem er lernen müsse umzugehen. Auf meine Frage, ob er dem Quietschbeu dabei denn helfen wolle und könne bejahte er ganz klar.

Bei den letzten 10 Terminen hatte der Ergotherapeut jede Stunde andere Materialien, die andere Sinnesbereiche ansprechen und für verschiedene Altersstufen waren, mit dem Quietschbeu ausprobiert und ihn so in jedem Bereich gefordert. Es kristallisierte sich schnell heraus, dass er in Sachen räumliches Denken und Zahlen/Mengen ein wahres Naturtalent ist. Lösungen von Knobelaufgaben, die diese Bereiche betreffen, fliegen ihm zu. Ich hab das selber mehrfach beobachten dürfen und war wahrlich beeindruckt.

Zeigt man ihm zum Beispiel ein Bild mit roten und blauen Bällen und fragt ihn, nach nur einem Blick auf dieses Bild, von welchen Bällen mehr zu sehen sind, dann antwortet er nicht nur richtig, sondern kann auch die korrekte Anzahl der Bälle benennen. Ich hab das auch versucht und hab elendig verkackt! Die mehr/weniger Frage konnte ich noch gerade so beantworten, aber zählen hab ich die kleinen Dinger mit nur einem Blick nicht können.

Ähnlich verhält es sich mit dem Spiel Rush Hour, das der Quietschbeu ebenfalls das erste Mal beim Ergotherapeut gespielt hat. Auf einem Brett werden Autos, die nur vor und zurück fahren dürfen, so lange hin und her geschoben, bis das kleine rote Auto vom Spielbrett ausgeparkt werden kann. Der Große war von dem Spiel so angefixt, dass er es schließlich während des Umzuges geschenkt bekam, um sich ein bisschen beschäftigen zu können. Letztendlich spielte er den Aufgabenstapel in nur 2 Tagen komplett durch. Zum Glück gibt es Zusatzkarten!*

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Und ich verkacke auch hier auf ganzer Linie. Eben saßen wir wieder gemeinsam in seinem Bett und sielten Rush Hour. Eigentlich sieht das dann so aus: ich schiebe völlig verzweifelt und stumm fluchend Autos hin und her, das Kind kichert, schüttelt mit dem Kopf und grinst, bis ich um Hilfe bitte und er das Drama binnen SEKUNDEN beendet, indem er einfach das rote Auto ausparkt. 

Also entweder bin ich saudoof (ein- und ausparken mit großen, echten Autos kann ich übrigens super!) oder mein Kinder superschlau. Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo dazwischen, aber worauf ich eigentlich hinaus wollte: ohne den Ergotherapeut wären wir sicher nicht so schnell darauf gekommen, dass das räumliche Denken beim Quietschbeu so stark ausgeprägt ist, geschweige denn, mit welchen Spielen und Aufgaben man ihn entsprechen fordern kann.

Jedenfalls kamen der Ergotherapeut und ich heute zu folgendem Schluss: ich werde dem Quietschbeu sagen, dass er nicht mehr zur Ergotherapie muss, aber darf, wenn er möchte. Als ich dann heute Abend mit ihm sprach war das wirklich sehr berührend für mich. 

„Wenn Du nicht möchtest, musst Du nicht mehr zum Herrn S. Aber Du darfst weiter hingegen, wenn Du das willst.“
„Ich muss nicht mehr dahin?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil es nichts gibt, wobei der Herr S. Dir helfen müsste. Du kriegst das alles prima alleine hin.“
„Aber ich darf trotzdem weiter da hingehen?“
„Wenn Du das willst, ja. Ihr könnt ein paar neue Rätsel lösen und andere Spiele ausprobieren. Vielleicht findest Du ja noch so etwas tolles, wie das Stauspiel.“
„Ich muss darüber nachdenken.“
„Tu‘ das.“

Es war seine Körpersprache, die mir verriet, dass er vorher tatsächlich geglaubt hat, dass er dort hingegen müsse, weil irgendwas mit ihm nicht stimmt. Und ich sah, wie diese Unsicherheit quasi von seinen Schultern abfiel, als ich ihm sagte, der Ergotherapeut müsse ihm bei nix mehr helfen. Ich weiß genau, dass er da sehr gründlich darüber nachdenken wird. Ebenso wie über die Sache mit der Taufe, über die er nachdenken wollte. Da haben wir nun einen Tauftermin vereinbart. 

Nun warten wir eben ab, wie er sich entscheiden wird. Ich hatte das Gefühl, dass ihm die Stunde Ergotherapie in die Woche sehr gut getan hat. Aber entscheiden muss er das nun wirklich alleine. Um nichts in der Welt will ich ihm das Gefühl geben, er sei nicht okay, so wie er ist. Aber ich fände es schon sehr schade, wenn er diesen Input, den er immer sichtlich genossen hat, ungenutzt lassen würde. Wir werden es sehen.

Ich habe mich, im Bezug auf mein großes Kind, selten so verstanden gefühlt, wie bei diesem Gespräch heute. Das war wirklich Balsam für meine Seele.

* Das Spiel gibt es auch in der Junior Edition und ist dann ab 6 Jahren geeignet. Allerdings habe ich nie wirklich begriffen, wo der Unterschied zum normalen Rush Hour (ab 8 Jahren) liegt. Die Autos sind etwas kindlicher gestaltet und die Aufgaben wohl etwas einfacher gehalten. Größe und Co. dürften aber identisch sein.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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16 Gedanken zu „Das hat er nicht von mir!

  1. In der Ergo vom Stadt Krankenhaus wurde dieses Spiel einem reiferen Herren an empfohlen. – Für seine Feinmotorik. Bei ihm stellten sich dann auch Probleme im räumlichen Denken ein. Jüngere Mitpatienten sagten, sie kennen das Spiel in diversen virtuellen Versionen. Je älter wir werden, desto mehr bauen wir leider ab. Das Gehirn ist glücklicherweise ein Muskel, den wir in jedem Alter trainieren können.

  2. Wirklich berührend geschrieben…! Wünschte unsere Ergotherapie bei unserem Kleinen könnte man auch so ein Ende finden. Wird leider so nicht passieren….

  3. Das hört sich doch super an mit dem Quitschbeu…
    Ich bin froh, dass der Ergotherapeutin so ein gutes Gespräch hat. Leider gibt es das auch anders und Kollegen ( bin auch Ergo) wollen unbedingt Patienten unnötig halten…

    Noch als Spieletipp, wenn der Quietschbeu Rush Hour so mag..
    Es gibt das Spiel „Crossing River“ ,dass ähnliches Prinzip verfolgt.. Und von Smart Games gibt es „Camouflage North Pole“ … Das gefällt ihm sicher auch..

  4. Ein Kind; welches anders ist, solkte auch immer so bleiben. Diese Andersartugkeit macht dich gerade unsere Gesellschaft aus.
    Wir haben auch eines. Ein ganz besonderes. Leider brauchen wir eine klare Diagnostik – nicht für uns, sondern für die Schule. Schade, dass nichts ohne geht.

  5. Meine Liebe, Dein Sohn ist schlicht und ergreifend hochbgabt, genau wie Du, nur habt ihr andere Schwerpunkte. Schau doch mal zu Inspiration auf den Seiten der Open Mind Akademie vorbei. :-*

  6. Du hasts bestimmt auch schon mal irgendwo geschrieben, aber was war der Ausgangspunkt, ihn zur Ergotherapie zu schicken?
    Woran habt ihr gemerkt, dass das vielleicht was für ihn wäre?
    Und was mich auf brennend interessiert: was war für ihn jetzt ausschlagebend dafür, sich für die Taufe zu entscheiden?
    Alles gute für euch! Bin ja gespannt, ob er sich entscheidet weiterhin zur Ergo zu gehen :)

  7. sucht und braucht, fördern kann. Aber mir fällt dein Beitrag von seiner Hauskonstruktion im KiGa ein. Vielleicht gibt’s da was vergleichbares neben dem Lego. Ach ja und dann ist der Zauberwürfel bestimmt bald was für ihn.
    Als ich die Beschreibung zu Rush Hour las, musste ich sofort an UnblockMe denken. Kennst du das? Ich bin süchtig danach und spiele es wann immer ich irgendwo wartend Zeit rumbringen muss (jetzt mit Baby komme ich leider kaum dazu :-) Habt ihr noch das Tablet? Dann wär das ganz sicher was für ihn. Da gibt es x Varianten und verschiedene Schwierigkeitsgrade.

  8. Upps… da ist leider der Satzanfang in meinem Kommentar eben abhanden gekommen:
    Das klingt toll. Im Alltag ist es sicher nicht immer einfach heraus zufinden, wie man ein Kind, das Herausforderungen sucht und braucht, entsprechend fördern kann. …

  9. Hallo,
    ich lese so gern von deinem Quietschbeu. Ich finde es so interessant, was er denkt, wie er ist, was du halt so verrätst. Erstaunlich und toll.
    Dass Kinder schnell an sich zweifeln, musste ich auch merken. Man muss so sehr aufpassen, was man wie formuliert. Schlechtes sitzt sonst so schnell in ihrem Hinterkopf fest und kann durch x gute Worte nur schlecht wieder weggeholt werden.
    Schön, dass auch du dich beim Therapeuten wohl fühlt. Und dass es eine so gute Einschätzung gab. Ich bin gespannt, wie der Quietschbeu sich entscheidet.
    Viele Grüße Ulrike

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