Einen eigenen Wille haben vs. nutzen

Wie Ihr seht habe ich mich dazu entschieden die Stay at home-Tagebuch Reihe für beendet zu erklären. Ich glaube nämlich, dass dieser neue Alltag einfach ist wie er ist und es kein offizielles Ende dieser Zeit geben wird. Sicherlich wird sich noch Einiges ändern, so wie sich die letzten Wochen immer mal wieder was geändert hat. Aber zurück zum alten Alltag, wie wir ihn vor Corona kannten? Daran glaube ich nicht mehr so recht.

Die letzten Tage haben wir jedenfalls das gute Wetter und unsere Freizeit genossen. Keine Schulaufgaben, keine Termine, dafür aber viel im und am Haus zu machen. Hört sich jetzt erstmal doch irgendwie nach Arbeit an, war es aber nicht.

Auch wenn von Freunden und Bekannten schon geunkt wurde, wann ich den Mann wohl über hab und froh bin, dass er wieder arbeiten geht, so hält sich hartnäckig die Freude über seine Anwesenheit. Letzte Woche war er komplett zuhause, in dieser muss er wieder arbeiten. Ich wünsch mir die letzte Woche zurück. Alles ist soviel einfacher und macht soviel mehr Spaß, wenn man ein Team ist. Auch der Alltag.

Da er dieses Woche das Auto braucht, müssen wir die benötigten kleinen Erledigungen im Dorf eben zu Fuß meistern. Solange es sich dabei nicht um den Einkauf von Getränken handelt, stört mich das auch nicht im Geringsten. Wir gehen jetzt zwar öfter los, holen dann aber auch nur die Dinge, die wir gerade wirklich benötigen. Gestern waren der Große und ich zum Beispiel kurz bei der Post und anschließend beim Türken, um Lammspieße fürs Abendessen zu holen.

Heute brauchte ich Hinterschinken, da es abends Spargel mit Kartoffeln und eben Schinken geben sollte. Der Große stöhnte, als ich ihn um seine Begleitung bat und so fragte ich den Mittleren, ob er nicht heute mitgehen wolle. Und dann sagt der einfach „Klar!“

Dazu möchte ich noch anmerken, dass er auch seit 2 Tagen unfassbar motiviert an seinen Schulaufgaben sitzt und bereits heute mit allen Pflichtaufgaben durch ist. Als erster der drei Geschwister. Das ist zuvor noch nie passiert!

Auf dem Weg ins Dorf erzählt er mir dann, dass er gerne neue Schuhe hätte. „Aber deine Schuhe sind doch noch super und passen tun sie auch.“

Beim Mittleren ist das nämlich so: Schuhe passen problemlos 2 Jahre ohne eng zu werden und sehen danach immer noch aus, wie eine Woche alt. Keine Ahnung wie er das macht, aber das ist seine geheime Superkraft. Der große Bruder schlurft neue Schuhe in wenigen Tagen durch und wächst dazu auch noch wie ein Atompilz.

Also antwortet er: „Ja, schon. Aber ich hätte trotzdem gerne auch mal neue Schuhe. Ich kann die ja dann abwechselnd anziehen.“

Der Wunsch ist legitim und nachvollziehbar. Aus dem selben Grund bekommt er auch jedes Jahr ein, zwei neue Kleidungsstücke, auch wenn er von seinem Bruder ohne Ende cooles Zeug erbt und so gut wie gar nicht wächst. Dieses was eigenes ist schon wichtig. Und umso mehr freut er sich dann auch über die Teile, die ihm ganz alleine gehören und die niemand vorher getragen hat.

Wir gingen also in den einzigen Schuhladen, den unser Dorf biete (Kette mit grünem Logo. Ihr wisst Bescheid), um mal zu gucken, ob es etwas gibt, das ihm gefallen könnt. Seine Vorstellungen waren schon sehr konkret und so wühlten wir uns durch die Regale, ohne genau den Schuh zu finden, der seinen Geschmack traf. Aber auch als ich schon resignieren und ihm die unendlichen Möglichkeiten des Onlineshoppings schmackhaft machen wollte, gab er nicht auf. Also saß ich in der Kinderabteilung vor dem TV rum und wartete auch meinen Sohn.

Zu meiner gnadenlosen Enttäuschung lief der TV nicht einmal und ich musste minutenlang einfach nur an die Wand, auf meine Hände oder in die blinkend-glitzernde Auslage starren.

Ab und an kam er mit einem Schuh vorbei, fragte mich nach meiner Meinung, trug sie wieder weg oder probierte sie an. Alles einfarbig, mal neon-farbig, oft weiß und auch mal schwarz. Die Sohle sollte auf jeden Fall zur Farbe passen. Schwarze Schuhe mit weißer Sohle sollten es nicht sein. Zum reinschlüpfen wäre schon cool, aber Klettverschlüsse dürfen es nicht sein. Nicht zu schmal und nicht zu spitz. Ich begann leise zu wimmern.

Als er mich bat ihm einen Karton aus dem Regal zu holen, an den er selber nicht dran kam, entdeckten wir die Schuhe, die er inzwischen präferiert hatte, in schneeweiß. Volltreffer! Es hatte einfach kein Muster im Regal gestanden.

Er schlüpfte also in den weißen Schlupfsneaker ohne Klettverschlüsse und war augenblicklich absolut selig. Und ich muss sagen: das wäre auch meine erste Wahl gewesen. Bei der Größe hatte ich auf 35 gesetzt, weil er bereits seit 2 Jahren 34 trägt. Aber sind wir ehrlich: 35 ist noch viel zu groß. Immer noch!

Also wurde es eben dieser Sneaker in Größe 34. In schneeweiß. Ihr haltet mich jetzt vielleicht für verrückt, aber wenn eins meiner Kinder schneeweiße Schuhe tragen kann, dann dieses!

Auf dem Rückweg hüpfte er völlig begeistert und stolz neben mir her, plante diverse Ausflüge, die er jetzt mit diesen Schuhen machen und welche Aktivitäten er damit als erstes ausprobieren würde. Seilspringen, zum Beispiel.

Zuhause stürmte er direkt auf den Mann zu und präsentierte auch ihm stolz seine neuen Schuhe.

Was daran so besonders ist, dass ich es hier in epischer Breite erzählen muss? Dieses Kind – das Mittelkind – hatte eine ganz klare Vorstellung davon was er wollte und hat diese auch formuliert. Das erste Mal, dass er das wirklich ganz bewusst tat, war letzte Woche beim Frisör. Nicht, dass er bis gestern noch keine eigene Meinung hatte. Aber das ausformulieren und durchsetzen war bisher nicht seine Stärke. Meist hat er sich auf mein Urteil, meine Meinung, meine Vorschläge verlassen und diese diskussionslos übernommen. Oft war das dann im Nachhinein mit Frust verbunden.

Ich habe ihm also immer und immer wieder gepredigt: „Du musst sagen, was du willst! Du musst dich für dich selber, deine Wünsche und deine Vorstellungen stark machen, laut werden! Ein eigener Wille nützt dir erst dann etwas, wenn du ihn auch äußerst und vertrittst.“

Dass er dafür nun fast 10 Jahre alt werden musste ist auf der eigenen Seite wirklich erschreckend, aber auf der anderen beweist es einmal mehr: jedes Kind hat sein Tempo und seine Zeit. Und ich bin unendlich froh, dass es bei ihm nun scheinbar Klick gemacht hat. Und natürlich auch, dass er soviel guten Geschmack bewiesen hat.

Tatsächlich hab ich danach noch geschaut, ob es den Schuh auch in meiner Größe gibt. Gab es, nur leider ist der überall ausverkauft. Pech gehabt. Ist der Sohn nun eben allein eine coole Sau.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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9 Gedanken zu „Einen eigenen Wille haben vs. nutzen

  1. Hier liegen Sandalen in 35…gewünscht vom Kamikazekind, weil …nun ja, weil er will auch neue Schuhe….weil der Kleine hat ja auch 34…..
    Sie warten wohl aufs nächste Jahr, denn sie sind viel zu groß.

  2. So coole Schuhe und so ein cooles Kind – ich kann mich allerdings noch dunkel daran erinnern, wie du früher übers „sehr willensstarke“ Löwenmaul geschrieben hast :D ist aber was anderes! und sind wir mal ehrlich, wer hat in diesen Zeiten nicht mal den Wunsch gehabt, sich einfach mal was schönes zu kaufen?

    1. Willenststark, ja. Aber in die andere Richtung. „Will is nis!“ „Mag is nis!“ „Mach is nis!“
      Jetzt sind wir endlich auf der konstruktiven Seite des Willens angekommen 😁

  3. Eine gute Wahl! Die habe ich letztes Jahr auch gekauft und bin am Überlegen, ob ich sie mir dieses Jahr noch in schwarz hole, falls es sie hier irgendwo gibt. Denn leider sehen meine weißen Schuhe nur ein paar Tage schön aus. *soifz* LG

  4. Mir ist das als Kinder immer abgenommen worden. Also Entscheidungen zu treffen und ich habe es tatsächlich verlernt. Zuerst meine Eltern, jetzt sagt mir mein Mann was ich will. Und wenn mich mein Mann fragt (macht er oft!) weiß ich meistens nicht was ich will. Egal wie banal die Sachen sind. Bei größeren Dingen, wie zb Urlaub brauche ich Monate und die besten Angebote sind weg.
    Bei meinen Kindern frage ich jetzt „was gefällt dir?“ „was möchtest du?“ Lebenswichtig.. ;-)

  5. :-) Ich finde das ja eine tolle Entwicklung und ja, das ist superwichtig, eigene Wünsche artikulieren zu können und eigene Bedürfnisse zu formulieren.
    Wir haben hier leider das Gegenteil: ein Kind, das IMMER genau weiß, was es will (und was nicht). WIE das auszusehen hat, was er möchte (und wenn es das nirgends gibt, will er es halt gar nicht.)

    Running gag: in der 5. Klasse wollte er eine lange Sporthose einer bestimmten Firma mit einem ganz bestimmten Bündchen unten. Wir kaufen solchen Sachen in den Kleinanzeigen und haben dafür eine Woche gebraucht, weil keins das richtige Bündchen hatte. Bei uns laufen diese Suchen seitdem unter „Deutschland sucht das Superbündchen“. Das ist auch anstrengend. Nur andersrum.

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