ADHS bei Müttern: Zwischen Depression, Perfektionismus und Selbstfindung

Portrait einer Frau mit langen braunen Haaren und ruhigem, leicht lächelndem Gesichtsausdruck. Sie stützt den Kopf auf die Hand und blickt direkt in die Kamera. Das Licht fällt weich auf ihr Gesicht. Sie trägt ein grünes gemustertes Oberteil und ein schlichtes Armband. Das Bild zeigt Selbstakzeptanz und Ruhe – eine Frau, die sich mit sich selbst ausgesöhnt hat. Es symbolisiert das Gefühl von innerer Klarheit und Erleichterung, das durch die ADHS-Diagnose entstanden ist. Kein Verstecken mehr. Kein Erklären. Sondern: Ich bin da. So wie ich bin.

Ich bin nicht zu viel. Ich bin einfach anders verdrahtet.

Wer mir schon länger folgt, weiß vielleicht schon:
Ich bin hochsensibel. Ich habe eine Angststörung. Ein chronisches Erschöpfungssyndrom. Mittelschwere Depression.

Das ist nicht neu. Aber was (für euch) neu ist:
Ich weiß schon länger, woher das alles kommt.

Wie konnte ich mein ADHS so lange übersehen?

Turns out: Ich habe ADHS.
Schon immer. Nur wusste es niemand.
Nicht meine Eltern. Nicht die Lehrer. Nicht ich.

Ich war einfach „die, die ständig stört“.
Die, die „sich nicht konzentrieren kann“.
Die, die „zu viel redet“ und „zu viel hinterfragt“.

Pia stört zu oft den Unterricht.
Pia diskutiert gern mit Lehrern.
Pia macht viele Flüchtigkeitsfehler.

Mit fünf musste ich zum HNO-Arzt, weil man dachte, ich höre nicht richtig. Ich hörte schon. Ich hörte nur nicht zu, wenn mein Gehirn sich langweilte.

Warum ist Langeweile für mich so schwer auszuhalten?

Hobbys haben mich schnell gelangweilt.

Erst war ich komplett into it, völlig im Tunnel und konnte an nichts anderes mehr denken. Und dann, von heute auf morgen, war das Gefühl des Interesses einfach weg. Wie eine Seifenblase einfach – PUFF – geplatzt.

Ich habe Bücher nie zu Ende gelesen, es sei denn, sie haben mich komplett gefesselt.

Meine Gedanken waren immer woanders.
Ich war kreativ, impulsiv, quirlig und so oft damit überfordert, wie ich eigentlich sein „sollte“.

Warum hat mich die Mutterschaft so überfordert?

Als ich Mutter wurde, hat es mich komplett zerrissen.
Nicht wegen der Kinder. Sondern wegen der Anforderungen.

Strukturen schaffen. Strukturen halten. Immer alles im Blick haben.
Getrieben vom Perfektionismus, weil mein ganzes Leben bis dahin nur aus Korrekturen und Kritik bestand.

Ich hatte das Gefühl, ständig zu versagen.
Als hätte ich nie gelernt, wie Alltag eigentlich geht.

Wie hat ADHS meine Sicht auf Elternschaft verändert?

Mit der ADHS-Diagnose kam nicht nur ein neues Verständnis für mich, sondern auch eine neue Sicht auf Elternschaft.
Ich hatte jahrelang das weitergegeben, was ich selbst gelernt hatte:
Kritik. Korrektur. Funktionieren.

Weil ich dachte, dass es so eben läuft.
Weil ich dachte, dass man Kinder so „richtig“ erzieht.

Und dann bekam mein erstes Kind eine Depression.
Später folgte die ADHS-Diagnose und die Erkenntnis: Ja, ein undiagnostiziertes ADHS kann zu Depressionen führen. Tut es sogar sehr oft.

Rund 50 bis 70 Prozent aller Frauen mit ADHS entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Depression. Oft, weil die Symptome lange übersehen oder als Charakterfehler abgetan werden. Besonders bei Mädchen und Frauen bleibt ADHS häufig unerkannt, weil sie sich besser anpassen, nach außen funktionieren und ihre innere Überforderung still aushalten.

Bei Jugendlichen mit unbehandeltem ADHS ist das Risiko für Depressionen ebenfalls deutlich erhöht. Studien zeigen, dass depressive Episoden in diesem Zusammenhang meist früher einsetzen, länger andauern und schwerer verlaufen als bei Jugendlichen ohne ADHS. Die ständige Reizüberflutung, das Gefühl zu versagen, und der soziale Rückzug wirken wie ein Nährboden für depressive Entwicklungen.

Das war der Moment, in dem alles in mir neu sortiert wurde.

Ich begann meine eigene Kindheit zu reflektieren, vieles zu hinterfragen, aufzuarbeiten, umzudenken.

Heute bin ich eine andere Mutter.
Nicht perfekt, aber ehrlich, transparent, authentisch.

Eine Mutter, die sich selbst kennt. Und ihre Kinder nicht mehr an einem Maßstab misst, der nie für sie gemacht war.

Wie sieht mein Alltag mit ADHS wirklich aus?

Ich bin eine grauenvolle Hausfrau. Wirklich. Wäsche vergesse ich regelmäßig in der Maschine. Wenn sie es dann doch mal in den Trockner schafft – nachdem sie eine neue Runde im Wasserkarussell drehen durfte – und sogar gefaltet ist, steht sie tagelang in Körben im Weg herum.

Essensplanung über mehrere Tage? Ein Mythos. Ich vergesse sogar zu essen. Oder zu trinken. Oder aufs Klo zu gehen. Und wenn ich es merke, ist es meist schon fünf Stunden zu spät (bis auf das Klo-Ding, das kann ich tatsächlich bis kurz vorm Platzen halten).

Diverse Piles of Shame, also diese Haufen aus „Das räume ich später weg“, verteilen sich liebevoll über das ganze Haus und ich nehme sie oft gar nicht mehr wahr. Wirklich aufräumen kann ich nur, wenn alles einen festen, nie veränderlichen Platz hat. Oder wenn Besuch ansteht und ich aufräumen muss

Sobald jemand das System ändert – zum Beispiel, wenn mein Mann den Wohnzimmerschrank aufräumt – finde ich monatelang gar nichts mehr.

Und selbst wenn ich todmüde bin: Sobald mein Kopf das Kopfkissen berührt, geht’s los. Dann spielt mein Gehirn den Tag in Endlosschleife, inklusive aller peinlichen Erlebnisse der letzten zehn Jahre und mindestens fünf erfundener Diskussionen, die ich nie führen werde.

Was hat die ADHS-Diagnose in meinem Leben verändert?

Wenn Menschen mich heute fragen:
„Was ändert diese Diagnose für dich?“
Dann sage ich: Alles.

Weil ich endlich weiß, dass ich nicht faul bin. Nicht chaotisch aus Prinzip. Nicht zu emotional. Nicht zu laut. Nicht zu anstrengend.

Ich habe ein Gehirn, das anders arbeitet.
Die Botenstoffe, die bei anderen ganz selbstverständlich bestimmte Prozesse regeln, sind bei mir aus dem Takt, besonders die, die für Aufmerksamkeit, Motivation und Impulskontrolle zuständig sind.

Und auch wenn ADHS keine klassische Stoffwechselerkrankung ist, liegt die Ursache tief im neurobiologischen System.
Trotzdem wird es gesellschaftlich oft nicht ernst genommen, anders als Diabetes oder PCO, bei denen niemand am medizinischen Hintergrund zweifelt.

Schon gar nicht bei Erwachsenen.
Und erst recht nicht bei Frauen.

Warum habe ich mich doch für Therapie und Medikamente entschieden?

Heute bin ich in Therapie. Nicht, weil ich „krank“ bin, sondern weil ich endlich die richtigen Werkzeuge in die Hand bekommen möchte, um mit meinem Kopf klarzukommen. Lange habe ich mich gegen Medikamente gesträubt, aus Angst, aus Unsicherheit, aus dieser alten Stimme im Kopf, die sagt: „Du musst das doch auch so hinkriegen.“

Aber nachdem ich erleben durfte, wie sehr die richtige medikamentöse Unterstützung meinem Kind geholfen hat, einen ganz normalen Alltag zu haben, habe ich mich selbst dafür entschieden. Für mehr Klarheit. Für mehr Ruhe. Für die Chance, dass mein Alltag sich weniger wie ein Überlebenskampf anfühlt und mehr wie ein Leben.

Bin ich krank oder einfach nur anders verdrahtet?

Ich mache keine Trends mit.
Ich bin kein wandelnder ICD-10-Katalog.

Ich bin einfach eine Frau, die fast 40 Jahre lang dachte, sie sei falsch.
Und jetzt endlich verstanden hat:
Ich bin nicht falsch. Ich bin einfach anders verdrahtet.


Häufig gestellte Fragen zu meinem Leben mit ADHS

Was ist der Unterschied zwischen ADHS bei Frauen und Männern?
Bei Frauen wird ADHS oft später oder gar nicht erkannt. Statt äußerer Hyperaktivität zeigen sich eher innere Unruhe, Selbstzweifel, Perfektionismus und Erschöpfung. Viele Frauen „funktionieren“ lange, bis sie irgendwann zusammenbrechen.

Wie wurde bei dir ADHS diagnostiziert?
Durch eine spezialisierte Diagnostik mit Anamnese, Fragebögen und Gesprächen, mit Blick auf meine Kindheit und mein heutiges Verhalten. Der Weg dorthin war lang, weil viele Symptome über Jahre falsch eingeordnet wurden.

Ist ADHS vererbbar?
Ja. ADHS hat eine starke genetische Komponente. Wenn ein Elternteil betroffen ist, liegt das Risiko für die Kinder bei etwa 50 %. In meiner Familie zeigt sich das sehr deutlich: Eines meiner Kinder hat einen diagnostizierten Mischtyp, ein weiteres befindet sich aktuell in Diagnostik, mit sehr starken Anzeichen. Sollte sich der Verdacht bestätigen, werden wir auch unser drittes Kind proaktiv testen lassen. Rückblickend erkenne ich außerdem viele ADHS-Muster bei früheren Generationen, die damals nie benannt oder verstanden wurden.

Wie äußert sich ADHS im Alltag?
Unstrukturiertheit, Reizüberflutung, Impulsivität, Vergesslichkeit, emotionale Überforderung, aber auch Kreativität, Energie, Empathie und außergewöhnliche Problemlösung. Der Alltag ist chaotisch, aber nicht hoffnungslos.

Warum bleibt ADHS bei Erwachsenen oft unentdeckt?
Weil viele Symptome als Persönlichkeitsmerkmale missverstanden werden. Besonders Frauen werden sozial angepasst, funktionieren irgendwie und stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück. Bis nichts mehr geht.

Was würdest du anderen Betroffenen raten?
Nimm deine Zweifel ernst. Hol dir Hilfe. Lies Erfahrungsberichte. Lass dich nicht abspeisen mit „Das ist halt das Leben“. Und hör nie auf, dich selbst besser kennenzulernen. Du bist nicht falsch, du bist eventuell nur anders verdrahtet.

Ich las mal einen Satz, der mir bis heute nachhängt:
„Wenn du dir über Monate oder sogar Jahre hinweg die Frage stellst: ‚Könnte ich ADHS haben?‘, dann ist die Chance ziemlich hoch. Kaum ein neurotypischer Mensch trägt solche Gedanken und Zweifel so lange mit sich herum.“
Wenn dich dieser Gedanke nicht mehr loslässt, lohnt es sich, weiterzugehen. Du hast nichts zu verlieren, aber vielleicht endlich eine Antwort auf alles.

Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 Teenagern (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf LinkedIn und Instagram.
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10 Gedanken zu „ADHS bei Müttern: Zwischen Depression, Perfektionismus und Selbstfindung

  1. Oh da bin ich jetzt doch überrascht, andererseits kann ich mir gut vorstellen, dass es sich ein wenig wie Genugtuung anfühlen muss. Endlich kann man bestimmte Verhaltensmuster anders hinterfragen und wie du schon sagst, sich selbst anders einschätzen. Ich denke, dass das eine große Erleichterung bringt.
    Spannenderweise ist dies ja auch eine Erkrankung die gefühlt immer häufiger auftritt.
    Sehr mutig von dir, hier so offen darüber zu sprechen. Ich denke, dein Text wird vielen Mut machen oder sie selbst zum Nachdenken anregen.

    1. Der Eindruck, dass ADHS immer häufiger „auftritt“, täuscht. Was tatsächlich steigt, ist die Zahl der Diagnosen, nicht die Fallzahlen an sich. Das liegt vor allem daran, dass Wissenschaft und Forschung in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht haben. ADHS wird heute viel differenzierter erkannt, nicht mehr nur bei lauten, hyperaktiven Jungs im Grundschulalter.

      Was früher als „verträumt“, „emotional instabil“ oder „nicht belastbar“ abgestempelt wurde, wird heute als Teil einer neurodiversen Realität verstanden. Das betrifft Mädchen, Frauen, Erwachsene und Menschen mit innerer Unruhe oder starkem Overthinking.

      Social Media hat dazu sicher beigetragen, weil viele erstmals eine Sprache für ihre Erfahrungen finden. Das ist nicht besorgniserregend, sondern längst überfällig. Denn nur wer versteht, was mit ihm los ist, kann auch lernen, damit umzugehen.

      Je mehr darüber gesprochen wird, desto mehr Menschen erhalten endlich die Hilfe, die sie vielleicht jahrzehntelang vermisst haben.

      1. So ähnlich geht es uns aktuell mit der Diagnose Zöliakie. Wir hören jetzt auch immer „das hat es doch früher nicht gegeben“. Doch wird es, aber damals ist nie einer danach gegangen. Genauso mit Laktose. Die Ärzte können aktuell nur viel besser die Diagnosen stellen. Früher ist man doch wegen seiner Ernährung nicht zum Arzt gegangen. Also zumindest kenne ich das bei vielen älteren Menschen so.

  2. Wie schaffst du dieses erlernte Denken zur Elternschaft „Kritik. Korrektur. Funktionieren.“ Abzulegen? Das ist etwas, was mir total schwerfällt und mir beim Großen einfach zu wider ist, aber ich kann es nicht ablegen. Dafür ist das Gedankenkarussell dann umso strenger und wirft mir vor, was ich wieder mal alles falsch gemacht habe, was ich verlangt habe, obwohl ich weiß, dass die ADHS von ihm ihn genauso hindert. Dass ich den Struggel doch kenne und es selbst gehasst habe, dafür korrigiert/kritisiert zu werden …
    Leider hat meine 1. Therapie nichts gebracht, die war irgendwie nur für Menschen mit Depressionen ausgelegt und den Weg zu finden Glücklich zu sein, haha ich bin doch glücklich. Als ich abgebrochen habe, wurden mit seitens der Therapeutin dann noch vorwürfe gemacht und nun hab ich Angst was Neues anzufangen. SHG gibt es keine in meiner Nähe oder ich finde einfach nichts. Ich wünschte, ich wäre nur ein wenig weiter.

  3. Ein sehr interessanter Text, vielen Dank. Ich lese diesen Block schon weit über zehn Jahre und habe oft bewundert, wie Du das alles anscheinend so völlig mühelos wuppst mit den Kindern, wie Du ihre Hausaufgaben und Hobbys begleitest, ihre perfekten Geburtstags-T-Shirts erstellst und anscheinend immer sehr viel Freude an dem hattest. Ich war schon mit einem Kind immer ziemlich gestresst und unzufrieden und hatte ständig das Gefühl, das alles nicht gut hinzukriegen (ohne ADHS!). Das lag übrigens auch – aber natürlich lange nicht nur – an Elternblogs. Nie wäre ich darauf gekommen, dass Du denkst, Du seist nicht genug. Du warst doch immer mindestens 100 Prozent. Gut auf jeden Fall, dass es jetzt offenbar Hilfe gibt und Du Dich so aktiv damit auseinandersetzt.

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