Dreißig Minuten dauert die Fahrt

In der Bahn, dem alternden RegionalExpress auf der Strecke Koblenz – Mönchengladbach, ergattere ich tatsächlich noch einen Fensterplatz in Fahrtrichtung. Nicht, dass ich zu diesen Menschen gehören würde, denen Tränen in die Augen schießen, sobald die mal rückwärts fahren müssen, oder noch schlimmer, die im Auto nicht und auf gar keinen Fall hinten sitzen können.

Mir ist das alles schrecklich egal und dennoch freu ich mich insgeheim ein klitzekleines Bisschen über den ergatterten Fensterplatz in Fahrtrichtung. Typisch deutsch eben.

Dreißig Minuten dauert die Fahrt. Jeden Morgen. Und jeden Abend.

Mir gegenüber sitzt der typische Dresdner-Bank-Angestellte. Nicht so ein Schaltertyp, mehr der Kredit-Mensch – sie wissen schon. Der mit dem steingrauen Anzug, dessen Jaket hinten schon diese unschönen Sitzfalten hat und eigentlich schon lange nach einer Reinigung, mindestens aber nach einmal Bügeln schreit. Er liest die FAZ und krümelt dabei mit seinem Wurstbrötchen auf seine Anzughose. Kann man ja abklopfen.

Neben mir sitz ein Mädchen Anfang zwanzig. Oder muss ich schon Frau sagen? Oder doch noch Mädchen?

Es ist schwierig Mitte zwanzig zu sein, den einen Hauch näher an 30 als an 20 und andere Menschen alterstechnisch einzuordnen. Jedenfalls ist sie weiblich.

Sie hört irgendeine furchtbare Schrabbelmusik, die sie wild mit den Händen auf ihren Knien trommeln lässt. Ein Takt ist nicht wirklich erkennbar. Ich unterziehe ihre Kopfhörer einem überprüfenden Blick und merke mir die Marke. Die Dinger beschallten tatsächlich das ganze Abteil, obwohl sie rein optisch bis zur Schnecke in den Gehörgang gepresst sind. Mich schaudert es kurz. So was tut doch weh.

Ich blättere etwas gelangweilt in meiner Neon, die ich schon viel zu lange mit mir herum schleppe. Irgendwie will ich einfach nicht über das Lebenslauf- und Zeugnisfälschungs-Thema raus kommen. Es ist gut geschrieben, aber an sich furztrocken. Ich blättere weiter und versuche den Artikel zu ignorieren.

Nicht ignorieren kann ich hingegen das vibrieren und gepiepste in meiner Jackentasche. Hektisch klemme ich die Neon zwischen meinem Ellbogen und meiner Tasche ein, fingere mit zwei Fingern in der Innentasche meines Mantels herum und ziehe schließlich mein Handy heraus. Oh mein Gott, die Leute gucken schon. Ist mir das peinlich. Sonst habe ich in der Bahn das Handy immer lautlos.

Der Mann ist dran und fragt, ob ich noch zu Hause wäre. Hallo? Mal auf die Uhr geschaut? Er grummelt ein wenig, weil er irgendetwas auf dem Wohnzimmertisch vergessen hat und die Information jetzt braucht. Ich verknote mich in meinem Sitz so gut es geht Richtung Fenster und flüstere, ebenfalls so gut es geht, dass er da leider zu spät anruft.

Mein Gegenüber schielt aus den Augenwinkeln in meine Richtung und beobachtet mich. Ich lächle ein wenig unsicher, verabschiede den Mann und lasse das Handy wieder in meiner Tasche verschwinden.

Kaum habe ich die Neon erneut aufgeschlagen, bemerke ich auch schon, wie das weibliche Wesen neben mir wieder näher rückt. Aha, die findet das Interview mit Harald Schmidt, bei welchem ich gerade angekommen bin, wohl auch ganz interessant. Gerade, als ich mir ein Lachen über Herrn Schmidts Aussage, er könne Menschen nicht ertragen, die „Texte ins Internet schreiben“, verkneifen will, klingelt mein Handy erneut.

Die Blicke meiner Mitreisenden sind nun weniger belustigt, eher genervt und ich kann sie verstehen. Folglich fingere ich noch hektischer als beim ersten Mal erneut mein Handy aus der Tasche. Mein „Ja?“ klingt inzwischen sicher genervt, da bin ich mir sicher.

Es ist erneut der Mann, der ein wenig kichert, als er meinen genervten Tonfall wahrnimmt. Er findet es toll, mich ein bisschen zu nerven. Das bereitet ihm Freude, wie einem kleinen Kind. „Du, ich wollt nur sagen, dass das nicht schlimm ist, dass Du schon unterwegs bist. Ist ja meine eigene Schuld, dass ich den Zettel vergessen habe.“

Ich erstarre in meinem Sitz, starre das Fenster an und schaffe es nicht, die dahinter liegenden Häuser und Bäume wahrzunehmen. So was hab ich irgendwie nicht erwartet. „Ich, ich … ich.“ Ich stottere. Nicht, dass ich ihm seinen ersten Anruf irgendwie krumm genommen hätte. Ich kenn den Mann ja jetzt schon ein paar Jahre und habe mir nix dabei gedacht, dass er so grummelig reagierte. Mir ist ja klar, dass es sich über sich selber und nicht über mich geärgert hat.

Und so überrascht er mich nun einfach völlig, dass er noch mal anruft, nur um mir zu sagen, dass er das eben nicht so gemeint hatte.

Ja, so was kann einen nach 5 Jahren wirklich arg aus der Fassung bringen. Und was macht der Mann? Er kichert wieder und freut sich daran, mich überrascht zu haben. Mit einem kleinen Anruf und einem Eingeständnis, dass ich ihm nicht zugetraut hätte. Eines, das irgendwie auch gar nicht nötig war, nicht wirklich bedeutend ist und mich dennoch völlig verwirrt.

Mit einem fröhlichen Lachen in der Stimme verabschiedeter er sich dann, wünscht noch kurz einen schönen Arbeitstag und legt auf. Ich starre mein Handy an, gute 2 Minuten, bevor ich es wieder verstaue.

Mein Blick muss eine Mischung aus Verwirrung und Heiterkeit sein, denn plötzlich lächeln mich sowohl der steingraue Anzug, wie auch das weibliche Menschlein mit der Schrabbelmusik an.

Mein Gesicht wird warm und ganz sicher auch rot. Ich beuge mich erneut über die Neon, lese den letzten Absatz noch mal und lache dann laut.

Dreißig Minuten dauert die Fahrt. Jeden Morgen. Und jeden Abend.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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7 Gedanken zu „Dreißig Minuten dauert die Fahrt

  1. Ich brauche täglich 40 min.. 10 Minuten mehr Fahrspaß ;) Neulich saß ich auf einem Einzelplatz – na gut ein Kindersitz war daneben, dennoch hab ich mich auch über den Platz gefreut, weil sich dort sowieso nie ein Kind hinsetzt. Auch an diesem Tag nicht. Nein, es kam besser: Eine erwachsene Frau – Französin, wie sich herausstellte – wollte sich neben mich auf diesen Kindersitz setzen. Sie fragte ob der Platz frei ist, da ich mit so was nie gerechnet hätte ließ ich sie ohne Kommentar durch.. Da saß ich nun 40 minuten mit einer erwachsenen Frau neben mir, die etwas beengt erhöht auf einem Kindersitz saß und deshalb nur in gekrümmter Haltung aus dem Fenster gucken konnte. Sowas kann nur mir passieren.. Nächstes mal wieder auf einem 2er Sitz ;)

  2. @dramatick Ich würd sagen „scheinbar“ ;)

    @pia *seufz* Irgendwie hast Dus zur Zeit ziemlich drauf die richtigen Geschichten mit den richtigen Worten zu treffen. Bloß nicht aufhören….

    nahezuofftopic: Wie erklärt die Neon denn dann schmoogle? Machen sich die Gewinner etwa damit selber zu Idioten?

    Und Neon und Mädchen ist zur Zeit eine sehr sympathische Kombination =)

  3. *runzel* An sich eine schöne Geschichte, also der höchst private Teil. Der andere Teil von Mitfahrenden klingt für mich nach etwas Größenwahnsinn.

    Aber man hat ja oft das Gefühl, dass die Leute nur auf einen fixiert sind. Die wissen ja alle ganz genau, dass man neu in der Stadt ist, sich mit dem ein oder anderen Accessoire nicht sicher fühlt und dass man es selbst peinlich findet, wenn das Handy länger als 3 Sekunden bimmelt ;-)

  4. hallo frau pia. ich würde mal wieder anfragen ob man die beiträge per rss vollständig lesen kann und nicht mittem im satz mit einem […] unterbricht, so ist es mal im moment wieder eingestellt.
    hoffend oder um eine erklärung bittend,
    tb

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