Geschwisterfluch und -segen

Vor wenigen Tagen schrieb ich hier von dem Dilemma, dass das Löwenmaul sich oft mit seinem großen Bruder vergleicht und, gerade wenn dieser neue Dinge lernt, schon mal recht frustriert reagiert. So haben die Vorschulkinder im Kindergarten nach den Weihnachtsferien mit dem Weben am Webrahmen angefangen. Das Löwenmaul erwähnte ganz nebenbei im Auto, dass er das eigentlich auch gerne machen würde, er ja aber noch kein Vorschulkind sei. Ich ermutigte ihn, seine Erzieherin doch mal zu fragen, ob er nicht vielleicht doch einen Webrahmen zum Ausprobieren bekommen könnte.

Gestern morgen brachten wir die Kinder sehr früh in den Kindergarten, da wir noch unseren Zweitwagen in der Werkstatt abholen mussten. So war das Löwenmaul das erste Kind in seiner Gruppe und hatte genug Ruhe und den Mut, seine Erzieherin nach dem Webrahmen zu fragen. Als ich ihn dann gestern abholte, präsentierte er mir voller Stolz seinen fast komplett gewobenen Webrahmen. Bis auf ca. 3 cm war der Rahmen voll. Ich war wirklich sehr erstaunt, auch weil die Erzieherin mir verriet, dass er den ganzen Tag daran gewoben und nur zum Essen unterbrochen hätte. Dabei habe er nicht einen Fehler gemacht. Er war so stolz. Mir ging richtig das Herz auf. Als wir dann seinen Fortschritt mit dem des Quietschbeus verglichen, stellte sich heraus, dass er sogar schon weiter war, als der große Bruder. Und der webt immerhin schon seit 2,5 Wochen an seinem Rahmen. „Wow, super Bruder! Das hast Du großartig gemacht!“ kommentierte der Quietschbeu ehrlich beeindruckt. Das war so ein Moment, in dem das Löwenmaul vor Stolz fast platzte. Und ich gönne ihm diese Gefühl so sehr.  

Gestern Abend überraschte mich das Löwenmaul dann noch mit einer weiteren sehr coolen Aktion, die mir im Moment des Geschehend sogar die Sprache verschlug und mich nur sehr breit grinsen ließ. Das Meedchen und er wollten Peter Pan gucken. Beide wollten den Fernseher anmachen. Das ist schon mal doof, bei nur einem Fernseher und einer Fernbedienung. Doch meine Einmischung war gar nicht nötig. Das Löwenmaul drückte dem Meedchen kurzerhand eine Fernbedienung für ein völlig anderes Gerät in die Hand und sagte: „Ich zähl bis 3, dann machst du den Fernseher an.“ Sie strahlte ihn an, hielt die Fernbedienung in Richtung Fernseher und er zählte bis 3. Auf 3 drückte er dann den Knopf auf der richtigen Fernbedienung und ließ diese dann sofort hinter seinem Rücken verschinden. Das Meechen strahlte ihn stolz an und er nickte todernst: „Das hast Du ganz toll gemacht!

Der Quietschbeu – der ja scheinbar genetisch bedingt nicht lügen kann – sprang aufgebracht vom Stuhl und wollte sofort richtig stellen, dass es das Löwenmaul war, das den Fernseher angemacht hat. Ich konnte ihn gerade noch zurück halten und ihm erklären, dass das eine ziemlich gute Finte gewesen sei. Immerhin seien nun beide glücklich. Das Meedchen und das Löwenmaul.

Nun könnte man argumentieren, dass ich den Kindern so beibringen würde, Lügen sei okay. Aber sind wir mal ehrlich: es gibt diese kleinen Notlügen, die niemandem schaden und – ganz im Gegenteil – eher hilfreich sind. Ich finde es schon ziemlich toll, dass mein 4jähriger so gewitzt ist, sich solche Tricks selber auszudenken. Immerhin hätte er sich auch mit aller Macht, Größe und Stärke gegen die kleine Schwester durchsetzen können, was mit Sicherheit einige Tränen oder Wutgeschrei nach sich gezogen hätte. 

Eine weitere Geschwister-Situation, die mich ehrlich rührte, hatten wir vergangenes Wochenende. Das Meedchen ist derzeit ein kleiner Gozilla. Wo und wann sie kann ärgert sie ihre Brüder. Die zerstört Duplobauten, nimmt ihnen Legofiguren weg oder versteckt alle Spielzeugautos unterm Sofa. Nun tanzte sie sehr wild durchs Wohnzimmer und wir ermahnten sie, nicht ganz so wild zu sein, damit sie sich nicht weh tut. Aber wie sagt man so schön: „Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus!“ Es kam, was kommen musste: Sie strauchelte, fiel nach hinten und stürzte auf den Millenium Falcon, der auf der Erde stand. Wir hielten alle die Luft an und sahen zum Quietschbeu, der zu einer Steinsäule erstarrt war. Natürlich flossen dann Tränen. Ich rechnete mit Wut. Wut auf die kleine Schwester, die durch ihre Unachtsamkeit sein heiliges Lego-Raumschiff zerschmettert hatte. Aber da liegt der kleine feine Unterschied zu ihren sonstigen Gozilla-Aktionen: Unachtsamkeit, nicht Absicht! Und auch das Meedchen reagiert ganz anders, als sie es sonst tut. Sonst rennt sie weg, lacht und gackert dabei und freut sich wie ein kleiner Teufel, dass sie die Brüder wieder geärgert hat. Doch diesmal stand sie auf, lief sofort zum Quietschbeu, umarmte seinen Bauch und streichelte seinen Arm. Man konnte ihr wirklich im Gesicht ablesen, wie leid ihr das tat und wie gut sie weiß, dass dieses Raumschiff für den Bruder so ziemlich das wichtigste Spielzeug ist, das er besitzt. Und wie lange er daran gebaut und gearbeitet hat. Und wie sehr er es hütet und beschützt. 

Während der Miezmann und das Meedchen gemeinsam die Tränen des Quietschbeus trockneten, baute ich – so gut es ging – den Millenium Falcon wieder zusammen. Wenn ich nicht wusste, wo ein Teil hinkommt, hielt ich es kurz hoch und der Quietschbeu schluchzte mir den genauen Platz des Bauteils zu. Der kann diese Anleitungen nämlich auswendig, wenn er sie einmal gebaut hat. 

Das Meedchen war an diesem Abend ungewohnt ruhig und leise. Das hing ihr noch richtig nach, den großen Bruder so aufgelöst und verzweifelt zu erleben.

Wissen Sie, ich liebe dieses Geschwisterding. So sehr. Klar streiten sie sich die meiste Zeit. Darum, wer den lieben und wer den bösen Lego-Mann spielen darf, wer beim Essen neben wem sitzt, wer zuerst geredet hat. Aber wenn es darauf ankommt, dann haben sie immer die richtigen Worte und Taten für einander übrig. 

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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18 Gedanken zu „Geschwisterfluch und -segen

  1. Oh mein Gott!!!!

    Du sprichst mir aus der Seele. Und während ich hier noch meine Tränen wegwische, weil mich das so sehr rührt, ist es genau dieses Geschwister-Ding, das mich auch bei meinen Jungs regelmäßig Tränen unterdrücken läßt.
    Erst gestern als der Kleine Engel beim Fußballtraining seines großen Bruder mitmachen durfte und einen Ball mitten ins Gesicht bekam. Da kam der Große sofort herbei und tröstete ihn, obwohl er gar nicht beteilligt gewesen war. Solche Situationen kommen im KiGa angeblich öfter vor, auch umgekehrt. Und erst vor Kurzem bin ich darauf angesprochen worden, wie selbstlos unser Großer sich in seinem Alter teilweise verhalten würde, was für sein Alter (6-letztes KiGa-Jahr) sehr ungewöhnlich und keineswegs selbstverständlich sei.
    Was ich eigentlich sagen will: In solchen Momenten bin ich über die Maßen stolz auf meine Kinder und weiß, dass wir trotz aller Widrigkeiten doch einen guten Kurs fahren und vielleicht nicht alles, aber die wichtigen Dinge richtig machen.

    Liebe Grüße
    Jenni

  2. Sehr schön! Da sieht man dann mal, wie lieb sie sich haben, trotz Streit. Und grad weil der Streit uns Eltern natürlich nervt, muss man sich solche schönen Momente besonders bewusst machen.

    Ich merke immer wieder, wie gut sich meine zwei gegen mich verbünden können, wenn ich schimpfe. Vor allem die Kleine verteidigt ihren großen Bruder dann enormst. Oft macht mich das dann noch wütender, bis ich dann zum Glück genau so oft bemerke – hey, das ist doch eigentlich ganz cool und ein Zeichen dafür, dass sie sich, bei allem Kleinkrieg, sehr, sehr mögen :)

  3. Das sind richtig schöne Situationen. Ich kann nur beim Fall des Fernsehers sagen, dass ich mich mit meinen Geschwister – oder die mit mir? – gestritten habe, wer was durfte. Und in solchen Fällen sind die „lügen“ wirklich okay.

  4. Ich finde auch nicht wirklich, dass man das als eine Lüge bezeichnen kann. Er hat sich und seiner Schwester eine Freude gemacht. Ist doch super.

  5. HERZ!allerliebst. Ich habe so lächeln müssen. Das sind wunderbare Geschwisteralltagsgeschichten. Bei unseren Dreien beobachte ich das auch und bin dann immer sehr gerührt.
    Ich bin froh, dass Du das mit dem Lügen so schreibst. Flunkern ist bei mir erlaubt. Ohne geht auch gar nicht, finde ich. Nur bei richtig bösen Lügen würde es ernste Worte geben.
    Ich habe das noch nie verstanden, warum man nicht flunkern darf. Rätsel über Rätsel.

  6. Es ist immer wieder schön, solche Geschwistergeschichten zu lesen. Wir bekommen im Juni unser zweites Kind und ich hoffe, dass ich dann auch solche Geschichten zu erzählen habe!

  7. Wirklich schön :)
    Dieses Geschwisterding herrscht bei uns heute noch. Sobald irgendwas gegen mich (21 J.) oder meinen „kleinen“ Bruder (17 J.), der inzwischen schon 30cm größer als ich geht, verteidigen wir uns gegenseitig.
    Eher halten wir zusammen, bevor uns irgendwas auseinander bringt. Daran verzweifeln dann höchstens die anderen, die in solchen Momenten keine Chance mehr haben :)

  8. Wie wunderschön das ist <3
    Es ist wirklich wunderbar wie Deine Kinder miteinander umgehen.

    Hier ist das leider nicht so :-( Empathie scheint hier nicht mitgeliefert worden zu sein *seufz* Kommt vielleicht noch.

  9. Liebe Frau Miez,

    Danke! Danke für diesen Artikel!
    Wir erwarten im Juli unser 2. Kind, und obwohl die Große schon 4 Jahre alt und recht verständnisvoll ist, mache ich mir schon immer wieder Sorgen um Rivalität (die es mit Sicherheit geben wird).
    Es tut so gut zu lesen, dass sich Ihre Kinder so gut verstehen, wenn’s drauf ankommt – das gibt Hoffnung für unsere!
    lg,
    Andrea K.

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