bundestreuer Anarchist

In letzter Zeit beschäftigt mich die Frage nach dem erwachsen Werden und dem erwachsen Sein vermehrt. Ich kann nicht einmal wirklich sagen, warum oder wieso.

Heute fragte mich jemand, ob ich der Vergangenheit oft nachhängen würde. Nein, ganz und gar nicht. Ich habe nur das Talent, mich zu erinnern. Sehr oft und vor allem sehr weit zurück. Oft erinnere ich mich an ganz kleine und belanglose Dinge, wie z.B. ein Wort, dass meine Schwester sagte, als ich drei war und welches ich nicht verstand. Oder an einen Gesichtsausdruck meines Bruders, welcher nur für eine Millisekunde erkennbar war. Und natürlich winzige kleine Berührungen, unbeabsichtigt oder einfach unauffällig.

Wenn ich mich erinnere, dann immer nur an die kleinen, zarten Details. So erinnere ich mich, dass ein Schulfreund auf einer meiner Partys mit rotem Edding den Namen ANNA auf die weiße Tischdecke malte. Nicht, weil die Tischdecke danach weggeworfen werden musste – sie war ohnehin aus Papier – sondern, weil er in einem höllischen Lärm und Tumult selig lächelnd über den Tisch gebeugt war und in Gedanken verloren auf die Buchstaben starrte, die er langsam vor sich schrieb. Er merkte nicht einmal, dass ich ihn dabei beobachtete. Vor zwei Tagen erhielt ich eine Email von ihm, ob wir nicht mal auf nen Glühwein vor die Tür gehen wollten. Und schon war die Erinnerung da.

Ich weiß, dass ich noch die selbe Zehnjährige bin, die damals ganz schrecklich in Joey McIntyre von den New Kids on the Block verliebt war.
Ich weiß, dass ich noch die selbe Zwölfjährige bin, die damals ganz schrecklich in Gary Barlow von Take That verliebt war.
Ich weiß, dass ich noch die selbe Vierzehnjährige bin, die damals Slime, WIZO, ToyDollz, GreenDay, Ramones und Sex Pistols hörte.
Ich weiß, dass ich immer noch die Sechszehnjährige bin, die damals eine sieben-Tage-Party schmiss und derbe Filmrisse schob.
Ich weiß, dass ich immer noch die Achtzehnjährige bin, die damals von Heute auf Morgen dem Alkohol abschwor, nur um Autofahren zu können.
Ich weiß, dass ich immer noch die Zwanzigjährige bin, die damals unbedingt die Laufbahn der Offiziere im Truppendienst einschlagen wollte und dies auch tat – vorerst.
Ich weiß, dass ich immer noch ein und die selbe Person bin, dass ich mich für eine Vergangenheit nicht schämen muss, denn ich hab sie genossen. Ob ich nun besoffen in Rinnsteinen lag, Take That vergöttert habe, Punk und Soldat war … das war alles ich. Nur durch diese Facetten bin ich so geworden, wie ich heute bin.

Ein Kind, eine Frau. Verspielt, albern und dennoch ernsthaft.
Ich bin ein bundestreuer Anarchist, wenn man so will. Denn zum Schluss ist alles nur eine Frage des Bauchgefühls und das hat immer gestimmt und stimmt heute noch.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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12 Gedanken zu „bundestreuer Anarchist

  1. „In letzter Zeit beschäftigt mich die Frage nach dem erwachsen Werden und dem erwachsen Sein vermehrt. Ich kann nicht einmal wirklich sagen, warum oder wieso.“
    Ich vermute mal, Du merkst langsam, dass die Schüler von heute immer jünger werden, so dass unklar wird, wann man mit dem Duzen aufhören und dem Siezen beginnen sollte; Du hast eine Arbeit, die Spaß macht und dich prefessionell fordert; Du hast ein Zuhause, dass sich nicht mehr nach Provisorium und Durchgangsstation anfühlt und ein kleines Familienleben mit dem Herrn H. (der mal wieder was bloggen könnte ;-)

    Du fühlst, dass Du fürs Erste angekommen bist.

  2. ja ich schliesse mich an, sehr schön.
    manchmal befindet man sich im zwiespalt, möchte ich erwachsen sein oder eher nicht.
    und manchmal ist man einfach kind, egal wie alt man ist.

    *ich denke da an das lied von peter maffay „ich wollte nie erwachsen sein…“ *

  3. ich kann mich täuschen..
    aber von einem tag auf den anderen ist dein blog irgendwie schwieriger zu lesen geworden. aber das was du schreibst umso toller!
    respekt…

    bei mir klappt das einfach nich..

  4. I’m a bitch
    I’m a lover
    I’m a child
    I’m a mother
    I’m a sinner
    I’m a saint
    I do not feel ashamed
    I’m your hell
    I’m your dream
    I’m nothing in between

    …obwohl ich Meredith Brooks nich mal wirklich kenne, musikalisch…. sagen diese Zeilem fuer mich, genau das, was Sie dort beschreiben, Frau Pia…zumindest hab ich aehnliche Gedanken, immer wenn ich dieses Lied mal hoere….

  5. Der Song von Meredith Brooks ist toll – und der einzige, den ich von ihr kenne.

    Um hier mit eigenen Erfahrungen zu kommentieren, bin ich nicht alt genug (obwohl die ersten beiden Phasen mit meinen hundertprozentig übereinstimmen – komisch, wie individuell man sich beim WIZO-Hören-und-Mitsingen fühlt und was für ein Massenprodukt man dabei ist). Trotzdem kann ich mir den Senf nicht verkneifen, den jemand einmal an mich weitergereicht hat.

    Jedes Lebensalter hat etwas von jedem anderen. In manchen Achtzigjährigen zeigt sich erneut das Kleinkind oder der Teenager und manche Mittzwanziger führen sich schon auf wie achtzig.

    Hauptsache glücklich.

  6. Hui, tolle Worte… kann man genau so adaptieren… Punk, Raver, 7-Tage Parties, Soldat, Veranstalter von Gay Parties als Hetero, Marketingberatung… Mannmannmann…. da kommen Erinnerungen hoch!

    Gut so!

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