der Erste

„Mama, darf man sich selber lieb haben?“
„Ja, aber natürlich!“
„Das ist gut. Ich mag mich nämlich echt gern.“

Mein großer Junge. Ich weiß manchmal nicht mehr, wie ich in Worte fassen soll, was Du in mir auslöst. So starke Gefühle und Emotionen, wie Du sie in mir hervorrufen kannst, habe ich zuvor nie empfunden.

Du bist mein Erstgeborener.

Du hast meine Selbstzweifel, meine Unsicherheit und sicher auch dann und wann meine Ungeduld ertragen müssen. Es ist alles neu, was ich mit Dir erlebe.

Eben noch warst Du mein erste Säugling, mein Baby. Du hattest Bauchschmerzen, bist nur sehr schwer eingeschlafen, hast viel und schrill geschrien. Du warst mein erstes Beikostkind, mein erstes Krabbelkind, mein erster Läufer. Egal was wir erlebt haben, es war für mich und für Dich immer das erste Mal!

Du warst der Erste, der formulieren konnte, dass er Angst hat;
der Erste, der nachts in seinem Bett saß, um sein Leben schrie und sich selber kratze;
der Erste, der mich von oben bis unten vollkotzte;
der Erste, der das Beißen, Hauen und Streicheln an mir ausprobierte;
der Erste, der zu mir „Mama!?“ sagte;
der Erste, der nach mir laut und verzweifelt weinte;
der Erste, der mit offenen Armen und vor Freude glucksend auf mich zu rannte;
der Erste, der mich am Kindergartentörchen umklammerte und nicht gehen lassen wollte;
der Erste, der „Mama, ich hab Dich sooo liep!“ sagte;
der Erste, der sich im Laden auf den Boden warf und mit den Fäusten trommelte, weil er keine Brezel bekam;
der Erste, der mich „Du blöde Mama!“ nannte.

Wenn ich uns Beide, Dich und mich, betrachte, dann habe ich manchmal das Gefühl, Du bist mir emotional überlegen. Dein Verständnis, Deine Empathie und Deine Fürsorge sind nahezu grenzenlos. Und dennoch haben natürlich unsere Reibungspunkte, ja, schreien uns auch manchmal an. Du erklärst mir, ich sei gemein und wäre für heute nicht mehr Dein Freund! Daraufhin erklärte ich wiederum Dir, dass das gar nicht schlimm sei, weil Du ja ohnehin immer mein Sohn wärst und dass das viel mehr als nur ein Freund sei. Das hat Dich beeindruckt. Und bis jetzt hast Du noch nie zu mir gesagt, dass Du nicht mehr mein Sohn wärst (womit ich schon ein wenig gerechnet hatte).

Ich bin ein wahnsinnig emotionaler Mensch und lerne mit Dir Emotionen zu greifen, zu formulieren und auch zuzulassen. Wenn ich manchmal sehe, wie Du so schrecklich wütend wirst, wegen einer Kleinigkeit, wie Dein ganzer Körper bretthart wird, die Adern an deinem Hals hervor treten und Du einmal laut kreischst, dann wird mir wieder bewusst, welche emotionale Stärke zu hast. Und wie vorsichtig man damit eigentlich umgehen muss, damit diese nicht verkümmert. Eine derart starke emotionale Reaktion anzuschreien, fortzuschicken oder gar zu ignorieren, ist ungefähr so, als würde man einem Gänseblümchen ein Blütenblatt ausreißen. Nach 20 Blättern ist das Gänseblümchen kahl und trostlos. Natürlich soll man diese Emotion auch nicht aufbauschen und keinen großen Bahnhof drum veranstalten. Aber man muss sie zumindest ernst nehmen. Denn Du meinst das ernst. Du empfindest das als Ernst.

Ich lerne jeden Tag mit Dir mehr über Dich und mich – über uns. Über Emotionen und über das, was sie aus und mit uns machen.

Mein lieber Quietschbeu, Du bist mir ein Lehrer und vermutlich der beste, den ich auf diesem Gebiet haben könnte. Verzeih‘, wenn ich dann und wann Fehler mache. Ich liebe Dich von ganzem Herzen.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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18 Gedanken zu „der Erste

  1. Das ist soo toll! Du hast das soo schön geschrieben! Und lass dir gleich eins vorweg sagen: wenn hier jemand blöd kommentiert, dann wehrt er sich nur von wahrer Liebe zu hören! Denn das ist das hier: Liebe. Pur.
    Danke fürs „Mäuschen-sein“-dürfen! <3

  2. Bezaubernd ? So ist es und so wird es wohl immer sein, wir sind einerseits starke, prägende Vorbilder für unsere Babys/ Kinder, aber auch wir werden immer wieder zum beobachten, nachdenken, reflektieren und Veränderung durch sie bewegt und das ist auch gut so! :) Offen bleiben für das was sie uns täglich mitteilen möchten, genauso ist es :) …wunderschön, herzergreifend treffend geschrieben!

  3. ich weiß nicht, ob mein Kommentar vom Handy aus geschickt wurde, deswegen noch mal vom Pc aus:

    Ihr wächst beide zusammen aneinander. Jeder lehrt dem anderen etwas und wenn man mit Liebe lehrt, kann man keine Fehler machen. Liebe ist nicht perfekt, sie hat Ecken und Kanten, aber dennoch ist sie wunderschön.

    ?

  4. Mal wieder wunderschön und anrührend geschrieben…

    So oft habe ich schon über „letzte Male“ nachgedacht, aber noch nie so richtig über „erste Male“. Vielleicht, weil beim ersten Mal alles irgendwie schwierig und ungewohnt erscheint? Danke für den Denkanstoss! Ich werde jetzt sicher einige Dinge mit anderen Augen betrachten, gerade was den Rauperich angeht.

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