Feuerrot

Vor einiger Zeit schrieb ich diese kleine Geschichte. Ich weiß nicht woher sie kam und vermutlich wusste ich beim ersten Satz noch nicht, wo sie enden würde. Sie bedeutet mir viel, hat aber keinen Bezug zu realen Personen oder Begebenheiten.

Es ist eine Geschichte.
Eine Erzählung.
Nicht mehr und nicht weniger.

Mit zitternden Händen reiße ich ihn an mich, an meine Brust. Meine Finger krallen sich in seine blaue Daunenjacke, um ihn noch näher an mich zu ziehen, ihn zu spüren. Seine Augen sind nur einen Spalt weit geöffnet und ich bin mir nicht sicher, ob er mich sieht, ob er überhaupt weiß, dass ich bei ihm bin. „Matti. Oh, Matti!“ Ich flüstere heiser seinen Namen, wiege ihn langsam hin und her.

Wie konnte das nur passieren? Er war doch immer ein so aufmerksamer, vorsichtiger Junge gewesen. Als er noch klein war, gerade fünf Jahre alt, bekam er zu seinem neuen roten Tretroller einen feuerroten Fahrradhelm geschenkt. Ich glaube, er hat diesen Helm sogar mehr gemocht, als den Tretroller, denn nicht selten rannte er laut johlend durchs Haus, bekleidet mit einer Latzhose und diesem Helm und spielte Feuerwehrmann. Als er später in die Schule kam und der feuerrote Fahrradhelm zu klein wurde, musste auch der neue rot sein.
Sein erstes Fahrrad und auch das letzte, welches er sich vergangenen Sommer gekauft hatte, waren rot. So auch sein erstes eigenes Auto. Ein alter, klappriger Ford Fiesta, den er zur Hälfte von seinem Nebenjob selber bezahlt hatte. Den Rest hatten Oma und Opa dazu getan. Wie stolz Matti doch auf seinen fahrbaren Untersatz war.
Als er uns das Auto zum ersten Mal präsentierte, konnte ich mir ein Stirnrunzeln nicht verkneifen. „Und das soll sicher sein?“, habe ich ihn damals gefragt und Matti hat gelacht. „Es ist ein feuerrotes Feuerwehrauto. Natürlich ist das sicher.“ Er nahm es mir nicht übel, dass ich weiterhin skeptisch blieb und mich am Griff der Beifahrertür festhielt, wenn ich mit ihm fuhr.

Mein Blick fiel auf den jungen Mann in meinem Armen. Er war kein Kind mehr, wie ich mir in Erinnerung rief. Wir beide waren keine Kinder mehr. Ich strich ihm mit der linken Hand die Haare aus der Stirn, während ihn meine Rechte weiterhin fest umklammerte. Seine Stirn war kalt, eiskalt und das Gemisch aus Blut und Schweiß klebte an meinen Fingern. Wie, zum Teufel, hatte das passieren können?

Wir waren verabredet. Matti und ich waren häufig verabredet. Manchmal kochte ich für ihn, weil ich bis heute der festen Überzeugung war, dass er sonst verhungern oder an einer Fettleber sterben würde. Und dabei war Matti wirklich alles andere als dick. Dieses ganze Fast Food konnte seinem durchtrainierten und sportlichen Körper einfach nichts anhaben, während ich vom Anblick einer Pizza schon Hüftspeck bekam. Das hatte ich oft als unfair empfunden und er hatte dann versucht, mich zu versöhnen. „Ach Mietze, dass ist doch gar nicht wahr. Du hast eine Traumfigur, ein wunderschönes Gesicht und einen unglaublich tollen Charakter. Du Traumfrau, Du.“ Auch wenn ich wusste, dass er mit dem was er sagte übertrieb, so liebte ich es, wenn Matti mich Traumfrau nannte. Und das hatte er schon sehr früh getan. Als er gerade mal zehn Jahre alt war, erklärte er mir eines Abends, dass er fest davon überzeugt war, dass die perfekte Frau genauso aussehen musste, wie ich. Mal abgesehen davon, dass er ebenfalls fest davon überzeugt war, dass er mich mal heiraten würde. Der verrückte Kerl.

Eine winzige Regung reißt mich aus meinen Gedanken, lässt meine Fingerspitzen über seine Wangen gleiten und erneut seinen Namen flüstern. „Matti? Matti. Lieber Matti!“ Seine Augenlider flackern kurz, öffnen tun sie sich aber nicht. Vorsichtig lege ich seinen Kopf schließlich in meinen Schoß, nehme sein Gesicht in beide Hände und fange leise an zu weinen. „Oh Matti, bitte. Bitte, bitte, bitte.“ Ich weiß nicht, worum ich ihn eigentlich bitte. Vielleicht darum, dass er mir diese Angst nimmt, die mir die Luft abschnürt. Darum, dass er aufsteht, lacht, sich den Dreck von er Hose klopft und mich an der Hand hinter sich her zieht. So, wie früher. „Oh Matti.“

Als Matti dreizehn war, hatte er seine wilde Stunt- und Aktionheldenphase. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft er sich mit Ketschup beschmierte und sich mit verdrehten Beinen irgendwo im Haus auf dem Boden drapierte, um darauf zu warten, dass jemand vorbei kam und sich beinahe zu Tode erschreckte. Oft sprang er zehn Treppenstufen herunter, stürzte mit einer gekonnten Judorolle quer durch den Flur und erschreckte uns alle fürchterlich. Ich fand das selten wirklich lustig und habe mehrere Stunden sehr nachtragend kein Wort mit Matti gewechselt. Seine Versuche, mich mit schlechten Witzen wieder aus der Reserve zu locken, waren dann meist doch erfolgreich. Sein Lieblingswitz war ein „Fritzchen“-Witz und ging ungefähr so: Fritzchen geht mit seiner Oma in den Park. Als er einen fünf Euroschein findet, will er diesen aufheben, doch seine Oma ermahnt ihn: „Fritzchen, was auf dem Boden liegt, hebt man nicht auf.“ Einige Minuten später rutscht Fritzchens Oma auf feuchten Blättern aus und streckt verzweifelt ihre Hand nach Fritzchen aus. Dieser stemmt die Hände in die Hüfte und schüttelt den Kopf: „Nee Oma, was aufm Boden liegt, darf man nicht aufheben!“
Der Witz war abgedroschen, aber wenn Matti ihn erzählte, musste ich doch jedes Mal aufs Neue lauthals lachen. Wieso nur Matti?

Ich blinzle wütend die Tränen weg, die mir die Sicht verschleiern und erkenne, dass Mattis Lippen sich schwach bewegen. Sofort beuge ich mich tief zu ihm hinunter und versuche zu verstehen, was er sagt. Ob er überhaupt etwas sagt. Doch Matti bleibt stumm. Erneut spreche ich auf ihn ein, bemüht, nicht hysterisch zu klingen. Er hat immer sofort gewusst, wenn etwas nicht mit mir stimmte und in dieser Sekunde stimmte gar nichts mit mir. Mein geliebter Matti lag regungslos und bewusstlos in meinen Armen. Sein Kopf blutete und sein Körper war kälter als ein Dezembermorgen.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Matti war stets für andere Menschen da gewesen. Schon in der Schulzeit war er öfters in Schlägereien geraten, wenn er andere, schwächere Schüler hatte verteidigen wollen. Später, bei der Bundeswehr, hatte er oft zwei Rucksäcke getragen, wenn einer seiner Kameraden körperlich zu sehr erschöpft war. Natürlich hat er uns diese Dinge nie selber erzählt, denn Matti ist ein bescheidener Mensch, der ungern von sich selber redet. Aber sein bester Freund Tino hatte uns seine kleinen Heldentaten immer wieder zugetragen. Wir waren so unsagbar stolz auf Matti. Damals schon.

„Mietze?“ Seine Lippen sind blass und trocken, als er mich anspricht. So leise und zaghaft, dass man es glatt überhören könnte. Aber ich hänge an seinen Lippen, an seinen Augen, an seinem Leben. Ohne Matti bin ich niemand! „Ja, Matti. Ich bin hier. Hörst Du? Ich bin hier bei dir.“ Ich beuge mich erneut zu ihm runter, bis unsere Wangen sich berühren. Erneut schaudere ich, als ich bemerke, wie kalt seine Haut ist.
„Was ich passiert?“ Seine Augen sind trüb und seine Lider flackern immer wieder. Ich habe Angst, dass ich ihn verliere. Dass er die Augen schließt und sie nie wieder öffnet.
„Oh Matti.“ Ich schlucke, um nicht laut loszuheulen. „Du bist von einem Auto angefahren worden“, flüstere ich.
„Wo bin ich?“ Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film, in dem der Verunfallte erst nach dem Was, dann nach dem Wo fragen und zum Schluss wissen will, ob er sterben wird. Matti wird nicht sterben. Nicht hier und schon gar nicht heute!
„Vor meiner Haustür. Wir waren verabredet. Du bist aus dem Auto gestiegen, über die Straße gegangen … Das schwarze Auto ist einem Radfahrer ausgewichen, der gegen die Einbahnstraße fuhr und dann …“ Ja, ich hatte alles gesehen, habe am Fenster auf Matti gewartet und ihm zu gewunken, als er aus seinem roten Fiesta stieg. Aus seinem Feuerwehrauto.
„Es tut mir Leid, Mietze.“ Seine Stimme ist nicht mehr als ein Lufthauch auf meiner Wange und ich weiß, wie ernst ihm das ist, was er gerade gesagt hat. So war das schon immer. Matti und ich, wir verstanden uns auch ohne Worte, manchmal sogar ohne Blicke. „Das ist Blödsinn, Kleiner. Du hast keine Schuld. Du hast ja nichts verkehrt gemacht.“ Er mag es eigentlich nicht, wenn man ihn Kleiner nennt, immerhin ist er ein Meter und neunzig groß, was ihm bei der Bewerbung zum Feuerwehrmann sehr geholfen hat. Im Ernstfall könne man sich dann die Drehleiter sparen, hatte sein Chef gescherzt.
„Ach, Mietze.“ Er seufzt sehr leise und schließt die Augen. Sofort bekomme ich Panik, rüttle sachte an ihm und rufe seinen Namen. Als er nicht reagiert, schüttle ich ihn fester und mein Rufen wird lauter. „Matti! MATTI! Verdammt! Matthias!“

Ein Schaudern durchfährt seinen Körper so deutlich, dass ich ihn spüren kann. Dann sieht er mich wieder an. „Du hast mich schon ewig nicht mehr Matthias genannt.“ Sein linker Mundwinkel zuckt und es sieht ganz kurz so aus, als wolle er lächeln. Mein Herz setzt für eine Sekunde aus und mich beschleicht das Gefühl, als wolle er mich veralbern. So wie damals, wenn er am Fuß der Treppe gelegen hatte, mit Ketschup beschmiert. Dann hatte ich ihn bei seinem vollen Namen genannt. Wenn eine Situation ernst war, nannten wir uns immer bei unseren vollen Namen. Aber es schien schon ein halbes Leben her zu sein, dass Matti mich Mia genannt hatte.

Beim Gedanken daran schießen mir erneut Tränen in die Augen und ich kann meine Angst nicht mehr verbergen. Leise weine ich, während meine Stirn gegen die meines kleinen Bruders gepresst ist. Einundzwanzig Jahre sind einfach viel zu wenig. Wenn das Alles sein soll, wieso hat man mir überhaupt einen Bruder geschenkt? Wieso nimmt man ihn mir jetzt schon wieder weg? Ich kann nicht ohne ihn leben. Er ist meine andere Hälfte. Nichts habe ich mir sehnlicher gewünscht, als einen Bruder. Und ich war so verdammt stolz, als Mama mir an meinem vierten Geburtstag verriet, dass ich ein Geschwisterchen bekommen wurde. Einundzwanzig Jahre waren nicht genug! Und was war schon ein Augenblick, gegen einundzwanzig Jahre? Der Radfahrer, das ausweichende Auto, Matti … das war nicht mehr als ein Augenblick.

„Mietze?“ Ich schluchze nur, zu mehr bin ich nicht fähig. „Ich glaub, ich muss jetzt gehen.“ Seine Stimme klingt plötzlich so fest, dass ich erschrocken hoch fahre, ihm panisch in die Augen sehe und dieses beruhigende Lächeln erkenne, welches nur Matti zu Stande bringt. „Nein Matti, Du gehst nirgends hin. Verstanden?!“ Mein Blick ist wütend, doch Matti erschickt nicht davor. Er lächelt immer noch und schließt langsam die Augen. Sofort zerre ich an ihm, schreie ihn an. Meine Stimme überschlägt sich zu einem hysterischen Kreischen.

Schließlich greife ich nach Mattis Jackenkragen und will ihn von der Erde hoch ziehen, ihn auf die Beine reißen und so alles ungeschehen machen, was in den letzten fünf Minuten passiert ist.

„Mia, du Tramfrau. Man soll nichts aufheben, was auf dem Boden liegt.“ Ich verharre in der Bewegung, starre meinen kleinen Bruder an, der in diesem Augenblick seine Augen erneut schließt und dabei lächelt. Völlig apathisch sitze ich auf dem kalten Asphalt, meinen geliebten Matti im Arm und muss erkennen, dass ich jetzt alleine bin. Dass meine andere Hälfte gerade gegangen ist. Dass ich zurück bleibe. Mit tausend Erinnerungen, aber alleine.

***

„Mia, wie lang willst Du diesen Schrottkübel noch fahren?“ Genervt zerrt meine beste Freundin Tina an der Beifahrertür, die schon seit drei Jahren klemmt. Ich lächle ihr über das Autodach hinweg zu. „So lange er fährt, ist er noch in Ordnung, hat Matti gesagt.“ An Tinas Gesicht sehe ich, wie unangenehm ihr plötzlich ihr genervter Ausruf ist. Ich lache leise und deute ihr mit einem Wink, dass sie einsteigen soll, nachdem ich die Beifahrertür von innen geöffnet habe. Als wir nebeneinander im feuerroten Fiesta sitzen, sieht sie mich einen Moment prüfend von der Seite an. „Geht es Dir gut?“ Ich nicke und will den Wagen starten. Doch der Motor springt nicht an. Nicht mal ein Glucksen oder Stottern ist zu hören. Tränen sammeln sich in meinen Augen und langsam ziehe ich den Schlüssel aus dem Zündschloss.

„Exitus.“, sage ich leise und versuche zu lachen. Doch alles, was aus mir heraus bricht, ist ein bitterlicher Schmerz, den ich laut in die Welt hinaus weine.

Ich diesem Augenblick stirbt Matti ein zweites und letztes Mal unter meinen Händen.
Ich lasse ihn endlich los.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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9 Gedanken zu „Feuerrot

  1. Mein Güte!
    Du kannst sowas von gut schreiben da ist es ja fast ne Schande das du das nicht Hauptberuflich machst…

    Ich bin jedenfalls schwer beeindruckt von deinem Talent..

    kannst gerne noch mehr „alte“ Kurzgeschichten von dir veröffentlichen oder du sammelst diese und brungst ein 2. Buch heraus… ;)

    LG
    Martin

  2. Oh Pia, welche traurige Geschichte .. das Ende ist sehr bewegend.

    Loslassen ist eines der schwierigesten Dinge im Leben .. und zu erkennen, dass es dafür doch nie den richtigen Zeitpunkt gibt.

    Wundervolle Kurzgeschichte … *seufz*.

  3. *seufz* *schluchz*
    Das war das bewegendste, was ich seit langem gelesen habe. Auch ich würde ein zweites Buch sehr befürworten…

  4. Tja.. werte Frau Drießen..
    Du siehst also das deine Fangemeinde nach neuen Lesestoff lechzt.. ;)

    hättest du denn theoretisch genug Kurzgeschichten um ein Buch zu füllen?
    (und würdest du die auch veröffentlichen wollen?)

    LG
    Martin

  5. Nein, ich habe nicht genügend Kurzgeschichten, um diese zu veröffentlichen. Und da meine Geschichten meist aus Bauchgefühlen entstehen, sind sie sowohl thematisch wie auch stilistisch völlig unterschiedlich.

    Hauptberuflich könnte ich auch nicht schreiben. Termine liegen mir nicht. Und ein Bauchgefühl richtet sich nicht nach Monatsmieten und so …

  6. Also das die thematisch nicht zusammenpassen würde ich nicht sooo dramatisch finden.. es gibt oftmals Sammlungen von Kurzgeschichten die einfach nur deswegen in ein Buch passen weil sie „Science Fiction“ oder „Fantasy“ oder „Krimis“ sind… trotzdem können die extrem verschieden sein..

    Aber wenn du eh nicht genug davon im Fundus hast hat sich das ja eh erledigt..

    Das ist wohl wahr… Im Gegenteil.. je mehr Termindruck desto eher kein Bauchgefühl zum schreiben..

    Dann freuen wir uns einfach so wenn wir ab und an die eine oder andere Kurzgeschichte hier lesen dürfen…

    Wie hat sich eigentlich bisher dein Erstlingswerk verkauft?

    LG
    Martin

  7. Ich habe es woanders gelesen, aber hier trifft es auch: „Es ist wunderwunderschön, aber es wird Dir das Herz brechen.“

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