Leben in der Lage

Machen wir uns nichts vor: unser familiärer Tagesrhythmus ist völlig im Eimer und muss bis kommenden Montag so langsam wieder auf die rechte Bahn gebracht werden.

So hatte ich mir für heute um 8 Uhr einen Wecker gestellt, da der Mittlere um 11.30 Uhr einen Zahnarzttermin hatte. Gut, den Wecker haben ich scheinbar gnadenlos überhört. Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern, dass ich ihn weggedrückt hätte. Folglich bin ich um 10:15 Uhr dann wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett gesprungen und habe den Sohn geweckt.

Schnell eine Kleinigkeit essen, anziehen, Zähneputzen und schon mussten wir los. Heute wurden die bleibenden Zähne versiegelt und ein winziges Loch an einem bleibenden Zahn gefüllt, das mit Versiegelung vermutlich gar nicht erst entstanden wäre. Der Mittlere hat nämlich ziemlich tiefe Fissuren in den Backenzähnen. Nun ist da aber alles wieder gut und versiegelt wurde der Zahn auch direkt. Kommenden Montag müssen wir dann nochmal zur Kontrolle eines Wackelzahns hin und dann ist wieder ein halbes Jahr Ruhe.

Direkt im Anschluss schnappte ich mir die Gräte und fuhr mit ihr zum Augenarzt. Ihr erinnert Euch vielleicht noch an die Netzhautentzündung Anfang Dezember? Hier hatte ich davon geschrieben. In der Zwischenzeit haben wir auch einen Allergietest beim Kinderarzt machen lassen, der aber ohne Befund blieb. Heute sollte also geschaut werden, ob die Entzündung abgeklungen ist und wie es sich nun mit der Sehkraft der Gräte verhält.

Gerade als wir aufgerufen und ins Behandlungszimmer gebeten wurden, begann der Livestream des WDR, in dem NRW-Familienminister Stamp und Schul- und Bildungsministerin Gebauer zum weiteren Vorgehen bei Kitas und Schulen in NRW sprechen sollten.

Gespannt lauschten wir also erst Herrn Stamp und dann Frau Gebauer und als diese endlich Luft holte, um nach vielen Vorreden zum Wesentlichen zu kommen, ging die Tür auf und der Arzt kam herein. Das ist ungefähr so, als wenn in einer super spannenden Schlüsselszene eines Film Bild und Ton einfrieren. Grmpf.

Aber egal, wir hatten hier ja schließlich noch andere wichtige Dinge zu tun. Einen erneuten Sehtest zum Beispiel. Wie sich ziemlich schnell zeigte: die Netzhautentzündung ist vollständig abgeklungen, aber die Sehfähigkeit ist und bleibt so stark eingeschränkt, dass das Görl eine Brille braucht. Kurzsichtig ist sie, was auch erklärt, warum sie die Tafel nicht erkennt, dafür aber problemlos Bücher und Co. lesen kann.

Wir verließen also mit einer Erstverordnung und einem Kontrolltermin in 6 Monaten die Praxis und fuhren direkt zum Optiker unseres Vertrauens.

Die Gräte probierte ein gutes Dutzend Brillengestelle an. Runde, ovale, eckige, bunte, schwarze, gedeckte Farben, grelle Farben. Mich beeindruckte mit welcher Sicherheit und Konsequenz sie ganz klar sagen konnte, was und wieso ihr gefiel und was nicht. Letztendlich entschied sie sich für ein Modell, das nur meine zweite Wahl gewesen wäre, aber da sie die Brille tragen und damit glücklich und zufrieden sein muss, habe ich mich nicht weiter eingemischt.

In die Brille kann sie zwar noch ein bisschen rein wachsen, aber sie steht ihr wirklich gut und wird mit entsprechenden Gläsern genau das tun, was sie tun soll. Zudem sitzt sie bequem, sagt die Gräte.

Auf dem Heimweg informierte mich das Radio dann erstmal darüber, was Frau Gebauer nun final von sich gegeben hat. Kein Präsenzunterricht in NRW im Januar, was ich sehr begrüße. Ich weiß, dass das viele Eltern wieder vor große Herausforderungen stellt, aber der Infektionsschutz und die Kontaktbeschränkungen haben meiner Meinung nach in der aktuellen Lage einfach oberste Priorität. Mit dieser Entscheidung können die Lehrer sich nun auch vernünftig auf Distanzunterricht einlassen und müssen sich nicht zwischen Präsenz- und Distanzunterricht zerreißen.

Und ja, mir ist nach wie vor bewusst, dass das keine optimale Lösung für alle sein kann. So wie die eine Lösung Probleme für die einen schafft, schafft eine andere Lösung Probleme bei anderen. Was ich mir aber nach wie vor sehr eindringlich wünsche ist Solidarität zwischen Eltern und Lehrer*innen. Eltern können keine Lehrer*innen ersetzen und Lehrer*innen sind oft selber Eltern von Kindern, die betreut werden müssen. Der Blick über den eigenen Tellerrand und raus aus der eigenen Befindlichkeitsblase ist nicht immer einfach, aber gerade in unserer jetzigen Situation zwingend notwendig, wenn wir das ganze so gut wie möglich meistern wollen.

Die Tage warf mir jemand vor, ich hätte ja leicht reden, ich sei ja keinem Arbeitgeber Rechenschaft schuldig. Das stimmt. Ich bin selbstständig und verdiene im Moment einen Bruchteil meines sonstigen Einkommens. Und wenn ich Bruchteil schreibe meine ich keinen Bruch in der Mitte, sondern mehr so Splitterbruch ganz weit am Rand. Krankenversicherung und Co. wollen dennoch weiterhin gezahlt werden.

Was ich damit sagen will: ich hätte auch lieber einen geregelten Tagesablauf mit Präsenzunterricht für alle drei Kinder in sicheren Schulen, damit ich wieder zuverlässig Aufträge annehmen und Geld verdienen kann. Das gibt die Pandemie aber leider gerade nicht her. Ich möchte aber, dass das schnell wieder möglich ist. Also lieber jetzt mal kräftig auf die Bremse treten, statt wieder alle paar Wochen Stotterbremse und – wie ich schon mal schrieb – in ständiger Sorge um Infektionen und/oder Quarantäne leben.

In der Beziehung habe ich im vergangenen Jahr übrigens eine Menge von meinen Kindern gelernt. Die können sich nämlich deutlich besser mit schwierigen Situationen arrangieren als so mancher Erwachsener. Oder wie man ehemaliger Chef es immer so schön formulierte: Leben in der Lage.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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Ein Gedanke zu „Leben in der Lage

  1. Liebe Pia,
    Danke für den klugen Appell und die Erinnerung an die Eltern-LehrerInnen-Solidarität!
    Selbst Mutter zweier Grundschulkinder bin ich zugleich Lehrerin, umkreise das Thema Schule so von allen Seiten und könnte Bücher mit Gedanken dazu füllen… Solidarität und Kommunikation könnten die nächsten Wochen in vielen Bereichen sicher entschärfen. Auch wenn wir über konkrete Wege nicht einig wären, haben wir Eltern und LehrerInnen ja ein gemeinsames Ziel: unsere Kinder mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln (die sich seitens der Schulen seit März 2020 immerhin fast überall verbessert haben) so gut wie irgend möglich durch diese Pandemie zu begleiten.
    Hoffnungsvollen & herzlichen Gruß von der anderen Rheinseite! Barbara

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