„MEIN GLUTSCHIWUTSCHI!“

Tränen überströmt, vor Verzweiflung zitternd und völlig aufgelöst ruft das Kind immer wieder „Mein Glutschiwutschi! MEIN GLUTSCHIWITUSCHI!“ Und ich fühle mich 2, nein, 4, nein 5 Jahre in die Vergangenheit versetzt. Wo sind die ganzen Vokabeln geblieben, die wir ihm in den vergangenen Jahren eingetrichtert haben? Wo der Satzbau? Wo die Fähigkeit etwas so zu sagen, das man es auch versteht? In Wahrheit schreit es das gerade zum 10. oder 11. mal. Davor habe ich nichts außer Schluchzen und „MNGLTSCHWTSCH!“ verstanden. Und, was zum Teufel, ist ein Glutschiwutschi?

Es ist schon faszinierend, das Kinder, in egal welchem Alter, einfach so und scheinbar ohne Anstrengung irgendeine vergangene Phase wieder raus holen, von der man lange dachte, sie sei sicher und endgültig überstanden und abgeschlossen. Und dann auch noch ohne ersichtlichen Grund. Oh, wait! Phasen kommen und gehen ja meist ohne ersichtlichen Grund. Es ist jedenfalls nicht damit zu rechnen, dass es in einer Autonomiephase steht, Krabbeln, Laufen oder Sprechen lernt oder gar Zähne bekommt. Weil eigentlich haben wir das schon alles hinter uns. Bis eben zu diesem Morgen, an dem das knapp 5jährige Kind ganz verzweifelt und aufgelöst nach seinem Glutschiwutschi weint. Glutschiwas? Ja, keine Ahnung!

Man könnte jetzt eine lange Abhandlung über das Seelenleben von 5Jährigen verfassen. Darüber, an welchem Scheideweg seines Leben es stehen, in welcher Geschwisterkonstellation es aufwächst und welchen harten emotionalen Prüfungen es sich gerade stellen muss. Man könnte. 

Stattdessen versuche ich irgendwie – selbstredend auf Augenhöhe, mit verständnisvoller Leisesprechstimme – das Kind soweit zu beruhigen, um wenigstens die Information zu bekommen, was dieses Glutschiwutschi ist. „Ma-hain Glu-hu-tschi-hi-wu-hu-tsch-hi!“ schluchzt es. Gut, soweit war ich schon.

„Na, der Hund. Blau mit Streifen. Da BABYSPIELZEUG!“ schreit die kleine Schwester neben mir, so dass der ganze Kindergarten direkt mitinformiert ist. Der knapp 5Jährige bricht erneut in lautes Geheul aus, legt noch eine Schippe drauf und erreicht die schrille Tonfrequenz, die seinem großen Bruder seinen Spitznamen einbrachte. Alter! Das kann der auch? 

Zumindest habe ich jetzt einen Anhalt. Das Babyspielzeug, wie es die kleine Schwester nannte, haben wir gestern in einer Kiste gefunden. So ein Schmusetuch mit Kopf, Sie wissen schon, das ihm irgendjemand zur Geburt schenkte und dem er, bis zum gestrigen Tag, nicht eine Nanosekunde Aufmerksamkeit geschenkt hat. Glutschiwutschi halt.

„Aber Schatz, den haben wir (WIR! Dabei wusste ich nicht mal, dass dieses Ding heute lebensnotwendig ist!) nun leider zuhause vergessen. Aber der wartet da auf Dich und freut sich, wenn Du heim kommst. Dann kannst Du ihn direkt begrüßen und kuscheln!

Das Heulen erstirbt. Klatschnasse Augen sehen mich bohrend an, die schweißnasse Stirn bildet kleine Fältchen oberhalb des Nasenbeins, die Augenbrauen ziehen sich gefährlich nach unten. 

„Mama! Das ist ein Kuscheltier. Das wartet nicht auf einen. Das ist gar nicht lebendig. Das liegt da nur so rum!“
„Oh.“
„Echt jetzt. Das ist doch albern!“

Albern! Mein Kind hat mich albern genannt. Wo ich ja scheinbar überhaupt nichts von Albernheit verstehe. Fast hätte ich nämlich gedacht, ein knapp 5Jähriger, der wie ein 1Jähriger(!) nach einem jahrelang(!) verschmähten(!!!) Babyspielzeug weint, sei albern. Aber was weiß ich schon.

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Pia Drießen, Kind der 80er, Mutter von 3 (Pre)Teens (*2009, *2010, *2012). Head of Content Experience bei SaphirSolution. Bloggt seit 2002 mal lauter und mal leiser. Virtuell unterwegs auf Facebook, bei Twitter und Instagram.
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14 Gedanken zu „„MEIN GLUTSCHIWUTSCHI!“

  1. Eine meiner frühsten Kindheitserinnerungen: die kleine Schwester weckt heulend das gesamte Haus. Unsere Eltern und tiefster Verzweiflung. Das Schwesterkind will ihr „Kuschelmuschel“. Jetzt. Sofort. Nach ewiger Analyse was um alles in der Welt das sein könnte, stellte sich heraus: das Schwesterkind will das winzige Stück Lammfell aus dem Kinderwagen. Ab diesem Moment musste das Stück (winzig!) unter ihrem Kopf im Bett liegen. Sonst war an Schlaf nicht zu denken. Über Jahre.

  2. großartig geschrieben ? ich wollte den größten Teil jetzt eigentlich auf dem Trödel verkaufen… vllt. sollte ich das besser nicht machen ?

  3. *lach* Erinnert mich an meine Tochter (mittlerweile 21 Jahre alt). Puppenbuggyschiebend, eine ältere Frau aus dem Dorf begegnet uns und sagt zur Vierjährigen „Oh, deine Puppe hat ja gar keine Socken an, die friert doch!“ Die Tochter antwortet trocken „Ne, die friert nicht. Die ist NICHT ECHT.“

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